Radiohead: Musik für Langstreckenflüge
Selten hat eine Band die Phantasie der schreibenden Zunft dermaßen angeregt wie Radiohead. Mit den Lobeshymnen auf das Quintett aus Oxford ließen sich vermutlich ganze Bücher füllen, dabei ist die Veröffentlichung ihres ersten Albums erst vier Jahre her. Jeder, so scheint es, liebt Radiohead. Naja, vielleicht nicht jeder, abgesehen von der eigenen Plattenfirma. Die bezeichneten das neue Album „OK Computer“ als „kommerziellen Selbstmord“, wie Sänger Thom Yorke mit einer Mischung aus Konfusion und Belustigung im Gesichtsausdruck zu berichten weiß. „Sie sind so gut, dass sie mir Angst machen“, sagt zum Beispiel Michael Stipe über Radiohead.


Und was sagt Thom Yorke zu al1 dem Überschwang, den seine Band begleitet? „Die Presse war immer ziemlich gut zu uns. Sie hat das Interesse der Leute in uns geweckt. Aber zum Glück haben sie uns nie gehyped. Sie haben nie versucht, mit dieser fiesen Penetranz die Leute von uns zu überzeugen. Meine Lieblingsplatten waren sowieso nie diejenigen, von denen ich in der Presse gelesen habe. Die habe ich oft gekauft und nachher gedacht „Naja, ist ja jetzt doch nicht so toll wie ich gedacht habe“. Ich finde, es gibt nichts Besseres, als einen Freund zu besuchen und sich von ihm seine neusten Lieblingsplatten vorspielen zu lassen.“ Was würde er den Leuten sagen, warum sie die neue Radiohead-Platte hören sollten! „Keine Ahnung, ich würde sie ihnen einfach vorspielen. Ich find, über Musik wird immer zuviel geredet.“
Hören wir doch lieber einfach mal rein in „OK Computer”. War der Vorgänger „The Bends“ in punkto Komplexität und songschreiberische Finesse bereits eine deutliche Weiterentwicklung zum Debut „Pablo Honey“, so ist den fünf Endzwanzigern nun ein weiterer Quantensprung gelungen. „Ok Computer” ist eine Platte, die sich keinesfalls mal soeben bewältigen lässt, sondern ein ganz großes Fressen für die Ohren. Zwei Songs kennt man schon. „Lucky“ aus der „Warchild“-Compilation“ und das elegische Exit Music (For A Film) aus dem Abspann zu „Romeo & Juliet“. Der Rest ist brandneu. Teilweise dunkel, ja abgründig wirken die Songs, aber trotzdem irgendwie ausgelassen. Mit „Electionieering“ ist eigentlich nur eine wirkliche Uptempo-Nummer dabei, der Rest wirkt sehr, sehr intensiv. Eine Platte, die sich nach mehrmaligem Hören quasi spiralförming ins Herz bohrt. „Langstreckenflüge“, sagt Thom, „Langstreckenflüge sind ideal, um dieses Album zu verstehe. Ich kenne Leute, die haben die Plane gehört und zunächst überhaupt nicht verstanden. Einer war sogar richtig ärgerlich und fragte mich, was dieser abstruse Quatsch denn eigentlich sollte. Aber wenn du lange unterwegs bist und so überhaupt nichts anderes zu tun hast, dann kommst du so in die richtige Stimmung, um dich darauf einzulassen. Du sitzt da stundenlang rum, und es kommen dir Dinge ins Hirn, die im alltäglichen Leben nie reinkommen würden. Ich habe selber gelernt diese Energie zu nutzen. Besonders zum Textschreiben sind lange Flüge einfach optimal.“
Radiohead sind eben alles andere als die typische britische Band. Dem Glamour bis zur Selbstverleugnung entsagen sie völlig, obgleich Thom Yorke die Gallagher-Brüder dafür bewundert, „wie tapfer die das alles aushalten.“ Und er selbst ein Rockstar? Gott bewahre. „Du würdest dich wundem, wie Schnell die Leute einen vergessen. Seitdem ich mir die Haare Schwarz gefärbt habe, werde ich nirgendwo mehr erkannt, ich werde auch gar nicht mehr angequatscht. Das ist brilliant und cool. Fast so, als ob man nochmal neu anfangen würde. Alle. die mich sehen, denken, ich wäre ein... Student.“
Dabei sind die Zeiten nun wirklich lange vorbei. Yorke, die Brüder Jonny (Gitarre) und Colin (Bass) Greenwood, Ed O’Brien (Gitarre) und Phil Selway (Drums) waren gerade frisch auf dem College, als sie sich vor inzwischen neun Jahren zusammentaten, um fortan gemeinsam Musik zu machen. „Wir fingen an aus purer Langeweile“. Gibt Yorke zu, „wir hatten auch null Ahnung davon, wie man ein Instrument spielt oder später, welche Richtung wir einschlagen wollten.“ Man nannte sich On A Friday und lernte in den kommenden Jahren ziemlich schnell. Vor fast fünf Jahren dann erschien das erste Album „Pablo Honey“ und wurde in der englischen Heimat mit recht hartnäckiger Mißachtung bestraft. Dann kam „Creep“, und über Nacht waren Radiohead big in America. „Creep“, bis heute die einzig echte Hitsingle der fünf, passte genau hinein ins US-Radio zwischen „Loser“ und „Smells Like Teen Spirit“. „Während der Zeit,“ erinnert sich Yorke, „passierte gerade dieses ganze sogenannte Alternative-Rock-Ding, und wir waren mittendrin.“ Nachdem der Song gut gelaufen und bis auf Platz 7 in den Single-Charts geklettert war während das Album Goldstatus erreichte, wollten die Radioprogrammierer mehr von der „Creep“-Kost. „Wir sagten ‚Nee, tut uns leid. Is’ nich’.“ Das war im großen und ganzen das Ende von Radioheads knapp sechsmonatiger US-Karriere, aber zugleich hatten sie damit endlich in ihrer Heimat die Aufmerksamkeit erreicht, die ihnen zustand. Vor lauter Blur, Suede und Oasis hat zunächst fast niemand auf Radiohead geachtet. „Aber“, so Yorke, „als es dann hieß ‚Aha, Top Ten in Amerika – vielleicht taugen sie ja doch was’, das hat uns schon ziemlich nach vorne gebracht.“ „Creep“ schaffte daraufhin auch in Britannien die ersten Zehn. In Amerika haben Radiohead dagegen schon weder ausgedient. Letztes Jahr taugten sie bloß noch als Anheizer für Alanis Morissette. „Es war ganz. Praktisch, weil wir da schon mal die neuen Songs ausprobieren konnten. Wir haben da vor einer Menge fetter amerikanischer Kids gespielt, die Popcorn gefressen haben und die keinen blassen Schimmer hatten, wer wir eigentlich sind. Das war schon ziemlich lustig.“ „Electioneering“ rechnet nochmal ab mit den US-Erfahrungen. „Wir schüttelten dauernd Hände, waren nett und sagten die richtigen Sachen. Ich habe mich gefühlt wie ein Politiker im Wahlkampf, ‚kissing babies’ und so’n Scheiß, ich habe mich leer und schmutzig gefühlt dabei. Du mußt dich als Band wirklich freimachen von diesem Business. Einfach spielen und Spaß haben.“ So klingt das Stück denn auch, ein bißchen punkig, nach Iggy Pop vielleicht, aber das ist wie gesagt die Ausnahme. „Die Leute sagen mir immer, es klinge alles so furchtbar schräg und seltsam in unserer Musik. Aber das finde ich gar nicht. Ich kann das nicht kapieren, dieses ständige ‚Oh, it’s so weird’-Gelaber. Für mich geben diese Songs alle Sinn. Ich bin der Meinung, diese Platte ist ein Pop-Album. Wenn die Leute das nicht begreifen, ist das deren Problem, aber für mich ist jeder Song hier drauf ein verdammter Hit.“
Und so fragt man sich, wem die verzerrte Computerstimme in „Fitter, Happier, More Productive, Not Drinking Too Much“ eigentlich gehört, klingen tut es jedenfalls nach Stephen Hawking. Aber es ist natürlich Yorke selbst, der dieses Spoken-Word-Stück im übrigen gar nicht so zynisch findet, wie man vermuten dürfte. „Es geht wirklich darum, daß du dich selbst verändern willst. Daß du mehr Sport treiben willst, wenn du drei Tage durchgesoffen hast. Und dann gehst du ein paar Mal joggen, aber nach einer Woche sitzt du wieder in der Kneipe, weil du einfach nicht genug Mumm hast. Ich versuche ständig, mich selbst zu verbessern. Aber meistens bin ich zu faul dazu.“
Produziert haben Radiohead das Album diesmal höchstpersönlich. Und zwar nicht irgendwo, sondern im Landhaus der Schauspielerin Jane Seymour. „Viele der schlechten Eigenschaften, die Produzenten so haben, haben wir uns auch angeeignet. Zum Beispiel zuviel nachzudenken. Den halben Tag lang haben wir uns manchmal über einen einzigen Gitarrensound den Kopf zerbrochen. Aber wir wollten mehr Verantwortung. So können wir niemandem die Schuld geben, wenn irgend etwas schiefläuft.“ Vielleicht waren sie auch einfach ein bißchen sauer, daß ihr bisheriger Produzent John Leckie jetzt sogar Leuten wie Ex-Take That’ler Mark Owen beibringt, wie man Britpop macht.
Stichwort Britpop: Damit halten Radiohead nie viel mit zu tun, waren sie doch immer schon zu gut und zu eigenständig, um in Schubladen gesteckt zu werden, können deshalb unbefangen sagen, was sie darüber denken. „Britpop ist tot. Grunge ist tot. Jetzt laufen die beim Radio voller Panik ’rum und wissen nicht mehr, was sie spielen sollen. Niemand weiß mehr, was gerade gefragt ist. Ich habe das Gefühl, die Industrie nimmt die Leute jetzt wieder mehr nach Gefühl und weniger aus Kalkül unter Vertrag. Alles andere wirkt ja auch nur noch lächerlich. Das durchschauen heute sogar schon 13-jährige.“ Was das für Radiohead bedeutet, liegt wohl auf der Hand. „Für uns ist das brilliant, ganz klar. Wir sind ja schon immer in verschiedene Richtungen losgezogen, ohne daß man uns irgendwo hätte hinstecken können. Wenn du bloß auf den Zug aufspringst, dann steckst du früher oder später fest. Denn irgendwann fallen die Räder ab.“ Der Zug namens Radiohead hingegen düst weiter mit Volldampf nach vorne.