Out of the Dark
Im Herbst soll ihr sehnlichst erwartetes neues Album erscheinen. Und – fast noch sensationeller: Radiohead erzählen vorab, wie es klingen wird.



Die englische Musikpresse macht, was sie immer macht, wenn eine populäre Band ein neues Album annonciert: Sie spielt verrückt. Schreibt sich in den üblichen Rausch und weiß fortan überhaupt nicht mehr, wo sie sich lassen soll. Glaubt man den Weeklies, dann handelt es sich selbstverständlich mal wieder um „the most anticipated album of the year”. Aber natürlich, ja doch. Eine Nummer kleiner haben sie's nicht. Warum auch? Das Corpus Delicti ist diesmal schließlich die neue Schallplatte von Radiohead. Die soll irgendwann im Oktober oder November erscheinen – aber über die Songtitel kann man ja ohne weiteres ein paar Spekulationen in die Tastatur drücken. Es kreisen seitdem unter anderem im Orbit: „ Keep The Wolf From The Door“, „C Minor“, „Say The World“, „National Anthem“ oder auch „How To Disappear Completely And Never Be Found“. Potzblitz, Donner und Granaten. Nichts Genaues weiß man nicht, aber das Spekulative klingt schon mal ganz gut. Vor allem letzterer Songtitel („Wie man komplett verschwindet und nie gefunden wird”) passt prima in den Radiohead-Kontext. Beziehungsweise in das Bild, was viele Menschen von der Band haben. Sind die fünf Männer aus Oxford nicht schon drei Studio-Alben lang herzzerreißend traurig unterwegs? Und singt der tiefsinnige Thom Yorke nicht immer und überall bedrückend gefühlsintensiv? Dergestalt, dass junge Menschen ihren Tränendrüsen bei Radiohead-Konzerten hemmungslos freien Lauf lassen? Wasser marsch bei Melancholiealarm? Die Antworten lauten: ja, ja, ja und ja. Und zwar in dieser Reihenfolge. Insofern geht es wohl schon in Ordnung, dass die englische Presse aufgeregt ist wie das sprichwörtliche Rudel Gewürzgurken. Zumal sich Radiohead dank ihres '97er-Albums „OK Computer wie die Heilsarmee der Branche fühlen dürfen. Zwar ausgestattet mit besseren Klamotten, aber auch mit einem mindestens ambivalenten Lob versehen: „They brought back rock to us“ – das ist Segen und Fluch zugleich.
Und zweifellos ein Satz, der, unabhängig von seinem Wahrheitsgehalt. das Songwriting für eine neue Platte nicht unbedingt einfacher macht. Und außerdem sicherlich mit dazu beiträgt, dass ohnehin introvertierte Musiker sich eher nicht in Plaudertaschen verwandeln. Betrüblich genug – wo Radiohead doch gemeinhin sowieso schon als nicht eben einfache Gesprächspartner gelten. Als solche, denen man die eine falsche Frage besser erst am Schluss eines Interviews stellt. Weshalb dem Journalisten dies und das, aber auch jenes durch den Kopf geht. Erst einmal ein bisschen Bauchpinselei, und dann in Sachen neues Album bohren? Oder lieber allgemein über das „Phänomen Radiohead“ parlieren? So viele Unwägsamkeiten, schon bevor die ersten Worte gewechselt sind. Jetzt keinen Fehler machen. Bloß nicht. Und dann löst sich alles in Wohlgefallen auf. Der Bann ist von jetzt auf gleich gebrochen. So er denn überhaupt jemals da war. Der Grund: Jon Bon Jovi. Der Vorsitzende der Geradeaus-Rocker hat freundlicherweise assistiert. In Form seines Antlitz' auf einem Zeitschriftencover und mit reichlich gebleckten Zähnen in strahlendem Weiß. Jonny Greenwood (28), Gitarrist und Keyboarder von Radiohead, erblickt das Bild und sieht sich dann zu einer subtil-gewagten Bemerkung veranlasst: „Ich weiß nicht, wer das ist – aber es muss ein Amerikaner sein, die kannst du immer an den Zähnen erkennen.“ Echte Unkenntnis oder erfrischend gespielte Ahnungslosigkeit? Wer weiß das schon so genau? Klar ist indes, dass Jonny Greenwood, so leise er auch spricht, mit Sigmatismus zu tun hat. Ein Fachterminus, mit dem der Logopäde eine fehlerhafte, zischelnde Aussprache von S-Lauten meint – und die der Laie schlicht als „lispeln“ bezeichnet. Sehr charming, und in Kombination mit Jonnys sanfter Art, die Worte aneinander zu reihen, auf jeden Fall sehr speziell.
Gleiches kann man ohne Frage auch von Colin Greenwood (31), Bass-Spieler bei Radiohead und außerdem Jonnys großer Bruder, behaupten. Colin hängt auf dem Sofa, lümmelt sich dann in halbwegs stabile Rechtsseitenlage, bevor er elegant wieder in sich zusammenrutscht. Formvollendetes Sitzen ist was anderes. Das hier ist ein Fall für den nächsten Orthopäden-Kongress. Aber, im Gegensatz zu seinem Bruder weiß Colin Greenwood, wer da in Fury-Manier ein tadelloses Gebiss zeigt. „Das ist Jon Bon Jovi, und die Songs vom neuen Album 'Crush' sind die besten, die sie je gemacht haben.” So biegt er also um die Ecke, der britische Humor. Feine Sache, das. Und höflich sind die beiden Spaßmacher auch noch. Wie es denn so gehe, wollen die Greenwood-Brüder wissen, und dann erweisen sie sich nonchalant als perfekte Gastgeber. Freundlich verweisen sie auf den umfangreich bestückten Beistelltisch: Tee, Kaffee, Wasser, etwas Gebäck? Aber gerne doch. Und dann vor dem ersten Kaltgetränk unbedingt die wichtigsten Fragen loswerden. Selbstverständlich die nach dem neuen Album, nach dem neuen Sound sowieso. Und natürlich auch eine nach dem Verhältnis zur Presse. Colin, mittlerweile auf dem Sofa in etwa auf Halbachtposition gerutscht, übernimmt: „In England schreiben sie seit Monaten, dass alle Welt wie wild auf unser Album wartet, also wird's wohl stimmen. Oder vielleicht auch nicht. Die britische Presse ist eben die britische Presse, was soll ich dazu noch sagen?” Und dann: Silentium vom Sofa. Kollektives Schweigen in der Suite. Bis Colin sich vom Sitzmöbel erhebt, zum Fenster geht und den Blick auf ein Großod gotischer Baukunst schweifen lässt. „Ich war schon ein paar Mal hier, aber noch nie oben auf dem Kölner Dom. Dafür bin ich viel zu faul.“ Was zweifellos eine schnörkellos-ehrliche Aussage ist, aber nicht zwingend zu einer neuen Erkenntnis in puncto Radiohead oder gar in Bezug auf das neue Album beiträgt. Den Part übernimmt jetzt Greenwood, der Jüngere. „Ich erzähl dir mal was: Wir wollen nicht mehr in Mehrzweck- oder Sporthallen auftreten, die sind einfach nicht für Konzerte gemacht. Unsere nächste Tour werden wir nicht in großen Hallen, sondern in so 'ner Art riesigem Zirkuszelt spielen, so für zehntausend Leute.“
Na, das ist doch mal was: Radiohead goes Circus Maximus. Gigantöse Gefühle, kryptische Texte und Melancholie de Luxe in XXL. Und das alles demnächst unter der Kuppel eines Zirkuszelts. Nicht schlecht. Aber auch nicht einfach zu bewerkstelligen. Finanzierung, Organisation, Logistik – das alles muss erst mal gestemmt werden, und dessen sind sich Radiohead auch sehr bewusst. „Es geht uns auf keinen Fall um so ein Je-kleiner-desto-besser-Ding“, erklärt Jonny, „wir möchten schon, dass uns alle Leute die uns live sehen wollen, auch live sehen können. Kann sein, dass das Ganze finanziell ein Desaster wird, weil wir ja auch wohl mit zwei Zelten durch die Welt ziehen werden. Und es gibt schon nicht allzu viele Bands, die mit einem Zirkuszelt durch die Welt ziehen. Wohl wahr. Aber noch längst nicht alles, was es zum Thema „Konzert-Location“ zu sagen gibt. Colin, mittlerweile wieder auf dem Sofa angekommen, führt noch ein ganz entscheidendes Argument ins Feld. „Wir hatten einfach auch keine Lust mehr auf diese ganze Werbung, die in Sporthallen rumhängt – für Coca-Cola, für Verstauchungs-Gels und Rheuma-Salben... wenn wir in unserem Zelt spielen, wird es nur eine Werbung geben: jede Menge Radiohead-Logos.“ Radiohead. Ein prima Stichwort. Also forsch voran und beherzt noch einmal nachhaken. Das neue Album und der Sound, die Zweite. Wie klingt's denn nun? Colin Greenwood stellt sich der Verantwortung, gibt sehr elegant den älteren Bruder und prescht, diesmal sogar in aufrechter Sitzposition, vor. „Es ist schwierig, über Musik zu reden“, doziert er, „man muss sie hören. Und ich weiß auch, dass es für euch Journalisten im Moment noch schwieriger ist, weil es bis jetzt keine neuen Songs zu hören gab. Aber das ging einfach nicht, weil wir so um die 40 neue aufgenommen haben und nur elf aufs Album sollen. Im Moment haben wir ernsthafte Diskussionen darüber, welche das sein werden. Manchmal wird das auch sehr stressig, so dass wir uns fast die Köpfe darüber einhauen. Wir kämpfen jedenfalls so hart und unerbittlich wie Gladiatoren“.
Colin Greenwood spricht's, sinkt dann sogleich wieder in sich zusammen und bekleckert sich danach beinahe mit dem eigenen Getränk. So sehen also moderne Gladiatoren aus. Trotzdem: was für eine Rede! Und der Bruder zur Rechten hebt schon zur nächsten an: „Letzte Woche standen noch sieben Albumtitel zur Auswahl, diese Woche sind wir schon vier runter auf drei. Wir haben auch schon überlegt, die drei möglichen Titel auf drei Zettel zu schreiben, die Zettel in einen Zylinder zu tun und dann einen davon zu ziehen – aber wir hatten keinen Zylinder.“ Womit, sowohl ob der mathematischen Nachvollziehbarkeit als auch wegen der fehlenden Kopfbedeckung, klar ist: Der Titel des neuen Radiohead-Albums bleibt nebulös. Der Sound allerdings, der wird nun doch noch in Worte gepackt. Endlich und erschöpfend. Colin Greenwood: „Wir haben ein paar Sachen mit Bläsern aufgenommen und auch ein paar Experimente in Richtung elektronischer Musik gemacht. Und insofern wird die Platte sicherlich abwechslungsreicher sein als 'OK Computer'. Aber es wird natürlich eine Radiohead-Platte sein, wir haben schließlich noch denselben Sänger. Und eine Dancefloor-Band wie die Chemical Brothers werden wir erst, wenn wir die vielen Bedienungsanleitungen für das ganze Equipment wie Sampler und Sequencer gelesen haben.“ Und wieder: eine ausführliche Rede, die Jonny noch einmal relativierend auf eine andere Ebene hievt: „Wer 'The Bends', kennt, wird Teile davon auf 'OK Computer' wieder erkennen. Und wer 'OK Computer' mag, wird bestimmt auch mit der neuen Platte etwas anfangen können. Wär' ja auch schlimm, wenn wir auf dem vierten Album nicht identifizierbar wären.”
Colin Greenwood sitzt immer noch auf dem Sofa. Sein Bruder Jonny freut sich derweil auf den Rest des Tages: nur noch zwei Interviews, ansonsten sind die nächsten Stunden nur Plattenkäufe reserviert. Vor allem elektronische Musik soll es sein, wenn möglich auf Vinyl. Was vom Tag übrig bleibt, sind drei Erkenntnisse. Erstens: Radiohead sind ganz bestimmt nicht so wie ihr Image. Zweitens: und dann auch wieder ein bisschen doch. Drittens: Colin und Jonny Greenwood sind zweifellos Sympathen, die etwas gesagt, aber sich dabei bestimmt nicht verplappert haben. Meeting people ist so schwer nicht für die beiden – aber eben auch alles andere als easy.
DER FILM FÜR DEN FAN
Das Leben des Rockmusikers ist nicht gerade einfach. Wenn nicht sogar kompliziert bis schwierig. Und anstrengend ist es sowieso. Etwa dann, wenn man, am Flughafen stehend, japanische Fans trösten muss, die ob der Abreise ihrer Lieblinge Rotz und Wasser heulen. Radiohead ist dieses Szenario widerfahren. Und überhaupt ist ihnen während der über 100 Konzerte ihr „OK Computer”-Tour so einiges passiert. Sie haben sich auf Hotelfluren des Öfteren verlaufen, weil die überall auf der Welt gleich aussehen. Sie haben Stunden in dezent angeranzten Backstagen-Räumen verbracht und darauf gewartet, auf die Bühne zu gehen. Sie waren mittendrin und voll dabei in der Rockmühle, die immer mit ein und demselben Mehrkampf einher geht: Flughafen, Hotel, Soundcheck, Konzert, Hotel. Zwischendurch sinnfreie Interviews geben. Und dann auch wieder: Sinnfreie Interviews geben, Konzert, Hotel, Flughafen. Die Monotonie des ewig Gleichen, zuweilen gern auch Alltag genannt, greift an – so zuverlässig wie erbarmungslos. Auch und gerade bei fünf Männern aus Oxford, die zusammen Radiohead sind und Musik machen. Der Regisseur Grant Gee hat das Geschehen mit und um Radiohead herum abgefilmt. und herausgekommen ist dabei ein audiovisuelles Gesamtkunstwerk, das über 95 Minuten latent unentschieden zwischen den Koordinaten Dokumentarfilm, künstlerisch wertvoll, geschmäcklerisch und abgeschmackt pendelt. Gekonnt stilisiert Gree etwa ein Foto-Shooting in Japan, bei dem sich peu à peu das Klicken der Apparate zu einem Geräuschkonglomerat verdichtet, bis es schließlich klingt wie das Trommelfeuer von Maschinengewehren. Keine Band auf dieser Welt, die sich da nicht bedroht fühlen würde. Und beinahe anrührend dokumentiert der Filmemacher den Moment, in dem Thom Yorke sein Mikro in die Menge hält und zunächst das Publikum den größten Hit der Band singen lässt: „Creep“ als massenkompatibles Leidensbekenntnis, als Hymne einer Generation, deren Sprachrohr Yorke nicht sein will. Bezeichnend, erfrischend ehrich und zweifellos auch fuckin' special, wie der Radiohead-Sänger während dieser Sequenz aus der Wäsche guckt: mit einer Mischung aus Amüsement, Resignation, Widerwillen und doch-noch-mal-singen-wollen-müssen. Das macht Thorn Yorke dann auch. Und bevor er singt, huscht ihm ein lächeln übers Gesicht. Dass Grant Gee zwischendurch allerdings Immer wieder allzu sehr aufs Kunstpedal drückt, ist eher listig: schnelle Schnitte, technisch perfekte Blenden, das hektische Flirren nächtlich illuminierter Städte. Dazu das Flackern von Neonreklamen und das Kontinuum fahrender Autos, die sich Stoßstange an Stoßstange über verstopfte Straßen quälen – geschenkt, alles schon x-mal gesehen. Und sogar schon von Udo Jürgens dereinst mit dem Wort „Großstadtgetriebe“ analytisch-treffend besungen. Wer nicht zwingend erfahren will, wie Radiohead wirklich sind, aber zuverlässig erfahren möchte, wie sich die Band während einer ellenlangen Welttournee mit der ganzen Palette ganz normaler menschlicher Stimmungen und Launen präsentiert, ist mit „Meeting People Is Easy“ prima bedient – auch wenn die Musik von Radiohead nicht die Hauptrolle spielt, sondern eher partikelhaft stattfindet. „Meeting People Is Easy – A Film By Grant Gree About Radiohead“ gibt es als VHS-Cassette und als DVD.