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Radiohead: "OK Computer"
Faszinierender Neurosenblues: Die britische Rockband Radiohead macht Lieder voll Paranoia und Psychosen, verpackt in fragile Blues- und Folk-Balladen.
von Klaus Winninger


Wenn Thom Yorke vor dem Mikrophon steht, wirft er sich in Posen der Verzweiflung, bevorzugt in jene, in der es aussieht, als trüge er eine Zwangsjacke.
Dann stimmt er mit gequälter Falsett-Stimme den ultimativen Blues des ausgehenden 20. Jahrhunderts an: Lieder voll Angst, Unsicherheit, Paranoia, Psychosen, versagt gebliebener Lust und unerwiderter Liebe.
Endstation Musik: Thom Yorke wurde mit einem geschlossenen Augenlid geboren, mehrere Operationen waren notwendig, den Defekt halbwegs zu beheben. In der Schule hänselte man ihn wegen des Gebrechens, und als er älter wurde und sich für Mädchen zu interessieren begann, blieb das eine einseitige Angelegenheit.
Jetzt müssen alle, nicht nur die Frauen, büßen: "When I am king, you will be first against the wall", keucht Thom Yorke in "Paranoid Android", der ersten Single von "OK Computer", einem mehr als sechs Minuten langen, dreiteiligen psychedelischen Epos. "This is what you get, when you mess with us", faucht er in "Karma Police". In einer ausgerechnet "Lucky" betitelten Ballade preßt er die Zeilen "I'm standing on the edge..." hervor. In "Let It Down" fühlt er sich "crushed like a beetle", im beklemmenden Gedicht "Fitter Happier" sieht er "no chance to escape". Und im wohl aufwühlendsten, klaustrophobischsten Stück malt er aus, wie es ist, wenn man die Wände hochgehen möchte: "Climbing Up The Walls".
Was Thom Yorke über andere Beinahewahnsinnige hinaushebt: Er vermag seine Neurosen in faszinierende Kompositionen und Poeme zu fassen, in denen er voller Verachtung und Abscheu das Leben auf dem Planeten Erde im allgemeinen und die Unfähigkeit, sein eigenes Dasein zu ertragen, analysiert. Und wenn ihm auf der Couch die fast schon schmerzlich schönen Melodien von "No Surprises", "Let It Down", "Exit Music" oder "Karma Police" einmal ausgehen, dann sind da wie in "Electioneering" unbändige Wut, gewaltige Energie und Elektrizität, die die Musik voranpeitschen.
Angeführt vom Soundtüftler und Multiinstrumentalisten Jon Greenwood drängt das britische Quintett die fragilen Blues- und Folk-Balladen Thom Yorkes in spannende, so noch nie gehörte Musik: Bizarre Computer-Geräusche zischen durch die Grooves; zarte, lyrische Gitarren flirren durch den Cyberspace, bevor unerwartet furiose Soli durch die binären Nebel stoßen; E-Piano-Akkorde schwellen an und dematerialisieren sich gleich wieder; liebliche Glöckchen klingeln, Mellotrone seufzen, gespenstische, sakrale Chöre verhallen im Nirvana. Und während sich die Atmosphäre zunehmend verdichtet, pumpt die Rhythmusgruppe ungerührt einen schwermütigen, souligen Beat, der alle und alles doch noch am Boden hält.
Wenn Thom Yorke den Neurosenblues dieser Jahre singt, dann produzieren Radiohead kollektiv den ultimativen Sound der Prä-Millenniums-Jahre: Rockmusik von und für paranoide Androiden.

Radiohead: "OK Computer" (Parlophone/EMI)