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Die Zukunftsmusik der Stubenhocker
"Kid A" ist anstrengend, skizzenhaft, unvollendet, pluckernd und experimentell. Trotzdem oder gerade deshalb sind Radiohead die erste große Band des 21. Jahrhunderts.
von Frank Lähnemann


"Es gibt nichts Langweiligeres als einen Rock'n'Roll-Star! Jemanden, der 10 Jahre lang 'on the road' war, sich dumm gesoffen hat, jemanden, der unkreativ ist und über ein Riesen-Ego verfügt." Das sagt Thom Yorke ­ und der ist keineswegs Sänger einer Nachwuchsband, die gerne mal irgendwann "ganz oben" stehen würde, sondern Sänger von Radiohead, einer der derzeit erfolgreichsten noch existierenden Bands der Welt. Von seinem letzten Album "OK Computer" verkaufte das Quintett aus Oxford locker 4,5 Millionen Exemplare, die Leser des englischen Musik-Fachblattes "Q" wählten das gute Stück zum "Besten Album des Universums" ­ vor "Revolver" von den Beatles. Eine Umfrage des Musik-Enzyklopädisten Colin Larkin sah das Vorgänger-Album "The Bends" auf Platz 2, knapp geschlagen von "Revolver". Die Frage ist lediglich: Sind Radiohead die letzte große Band des 20. oder die erste große Band des 21. Jahrhunderts?
Thom Yorke trifft man nicht auf Partys, ebensowenig seine vier Kollegen. Radiohead sind Stubenhocker, und die galten schon immer als "anders". Aber heute kommt die Welt zu einem, wenn man sich nicht in sie hinauswagt. Wie kaum eine andere Band nutzen Radiohead die vielen Möglichkeiten, die sich dank Internet und neuen Technologien bieten. Mit den Fans kommuniziert man eben über die Website, und jeder durfte dort das Studiotagebuch lesen. Und weil Radiohead ganz anders sind, ist auch ihr neues Album ganz anders. Unzählige Gerüchte rankten in den letzten Monaten um "Kid A" ­ die Spendenaffäre der CDU ergab im Vergleich dazu lächerlich wenig Stoff zu Spekulationen. Studiospione sprachen von ungenießbarem Krautrock, von rückwärts abgespultem Gesang, von Arbeitsweisen wie bei Alt-Elektronikern wie Can und Neo-Elektronikern wie Aphex Twin. Interviewanfragen zur Veröffentlichung? Lieber gleich vergessen! Single-Auskopplungen? Schon gar nicht. Aber kann überhaupt irgendjemand ­ abgesehen von "Creep" ­ Radiohead-Singles benennen? Videos waren natürlich auch nicht vorgesehen ­ dafür "i-blips", kurze Video-Images zu Werbezwecken. Kein Spaß für Journalisten: Es gab noch nicht einmal Vorabkassetten oder -CDs. Stattdessen bekam man Soundfiles angekündigt, die sich nach mehrmaligem Hören selbst zerstören würden.
Jetzt gibt es "Kid A" tatsächlich als "physischen" Tonträger, und man kann sich keineswegs entspannt zurücklehnen: Der Hörgenuss bleibt schwierig. "Anyone Can Play Guitar" sangen Radiohead einst, und nun darf man auch sie nicht mehr eine "Gitarrenband" schimpfen. Lediglich auf drei Stücken sind noch Gitarren zu hören, das so nicht ausgelastete Bandmitglied Jonny Greenwood wandte sich dafür dem "Ondes Martinot" zu, einer Art Mellotron, das bereits 1928 erfunden wurde. Es gibt durchaus Bewegendes ­ wie z.B. "Motion Picture Soundtrack", das einen wie eine Wolke aus Wohlgefühl umhüllt. Es gibt aber fast noch mehr Anstrengendes, Skizzenhaftes, Unvollendetes, Pluckerndes und Experimentelles. Man fühlt sich wie bei einer umstrittenen Ausstellung von moderner Kunst. DAS soll Kunst sein? DAS soll Musik sein? Selbst Produzent Nigel Godrich hatte wohl damit seine Schwierigkeiten und soll im Studio des Öfteren mit dem Kopf geschüttelt haben.
Für "Kid A" haben sich Radiohead ein ganzes Jahr Zeit gelassen ­ für ihr '93er Debüt "Pablo Honey" benötigten sie drei Wochen. Vorab katapultierte das flehentlich gesungene "Creep" die fünf Schulfreunde aus Oxford 1992, ein Jahr nach der Gründung, in die oberste Rock-Liga. Miesepeter feierten ­ nach Morrissey ­ mit Thom Yorke eine neue Identifikationsfigur. Für den Ober-Miesepeter Yorke hatte der Erfolg jedoch einen Bumerang-Effekt. Der Rummel um seine Person brachte sein Seelenheil schwer ins Wanken und zerstörte die Band nahezu, bevor es dann 1995 mit "The Bends" eigentlich erst richtig losging. Eine Tour mit R.E.M durch US-Stadien brachte neue Energie und Kraft fürs ramponierte Nervenkostüm. Thom Yorke wollte kein neuer Kurt Cobain sein. "Ich habe doch nicht 'The Bends' gemacht, damit Leute sich die Pulsadern dazu aufritzen!" Seit der Veröffentlichung von "OK Computer" im Jahre 1997 schließlich sind Superlative in Verbindung mit Radiohead Pflicht.
Kraftwerk traten einst an verschiedenen Orten gleichzeitig auf ­ als Roboter. Möglich, dass Radiohead das eines Tages fortführen und nur noch als Datei auftauchen. Oder wird Thom Yorke eines Tages auf der Bühne plötzlich verpuffen ­ wenn im Hintergrund "How To Disappear Completely" läuft? Unhörbar hin, hörbar her ­ Englands "Web Brothers" sind die erste große Band des 21. Jahrhundert.

Radiohead: "Kid A" (EMI), veröffentlicht am 3. Oktober 2000