Autisten unter sich
Nur neun Monate nach "Kid A" schon wieder ein neues Radiohead-Album? Das hält die depressivste Seele nicht aus. Zumal sich die britische Rockband mit "Amnesiac" noch tiefer in den eigenen Kokon zurück zieht.
Spätestens seit ihrem letzten Album "Kid A", einem Enigma, das bereits auf Orte zusteuerte, die zuvor vielleicht nur Scott Walker mit "Tilt" (1995) bereist hatte, waren Radiohead nicht mehr zu fassen.
Vom ungestüm-holprigen Debüt-Werk "Pablo Honey" über die mit Hit-Singles gespickten Meisterwerke "The Bends" und "OK Computer" bis hin zu "Kid A", hatte das Quintett um den rätselhaften Thom Yorke eine Entwicklung hingelegt, die höchstens mit jener von Blur vergleichbar war, einer Band, die über vergebliche Kategorisierungsversuche ebenfalls nur noch müde lächeln kann. Wer bislang noch keine Meinung zu Radiohead hatte oder, was ebenfalls häufig vorkam, lediglich die Hit-Single "Creep" kannte, reagierte auf "Kid A" entweder mit offener Ablehnung oder purer Bewunderung. Dazwischen gab und gibt es nicht viel.
"Amnesiac", nur neun Monate nach "Kid A" veröffentlicht und derselben, rund eineinhalb Jahre dauernden Aufnahmesession entstammend, ist natürlich nichts weiter als kommerzieller Selbstmord. Da mag die Plattenfirma konstatieren, dass die elf Stücke diesmal "müheloser und beschwingter" ausgefallen seien, "so weit dies bei der Melancholie, die Thom Yorkes Gesang verbreitet, überhaupt möglich ist". Die Wahrheit jedoch lautet: "Amnesiac" ist noch düsterer, noch klaustrophobischer und hermetischer ausgefallen als das ohnehin schon autistische "Kid A"-Material.
Zudem bestätigt "Amnesiac" auch jene zweifelnden Seelen, die bereits mutmaßten, die neue CD werde kaum mehr als Ausschussware offerieren, die es nicht auf das reguläre letzte Album geschafft habe. Dies ist jedoch nur teilweise richtig: Radioheads Maßnahme, mehr als 20 Songs auf zwei Alben zu verteilen, war schon deshalb ratsam, weil wohl nur eine Handvoll manisch-depressiver Masochisten ein Doppel-Album mit sämtlichen Stücken ertragen hätte.
Sieht man einmal von "Pablo Honey" ab, ist "Amnesiac" allerdings tatsächlich das schwächste Album, das Radiohead bislang veröffentlicht haben. Was nichts heißen muss, denn neben offenkundigen Enttäuschungen (gerade im hinteren Teil der Platte) gibt es auch hier wieder Stücke, die nur Yorke & Co. schreiben können: Das großartige "Knives Out", das freilich leicht an "Paranoid Android" erinnert, die Single "Pyramid Song", ein leierndes Piano-Epos, das alles sein mag, ganz sicher aber keine Single. Und dann gibt es noch das dumpf-verheulte "You And Whose Army?", das wie eine Fortführung von "Motion Picture Soundtrack" klingt, jenem Stück, das "Kid A" so unvergleichlich abschloss.
Der Rest ist zwiespältig, zuweilen sogar unnötig: "Hunting Bears" und "Like Spinning Plates" sind eigentlich klassische B-Seiten, "Packt Like Sardines In A Crushed Tin Box", vergleichsweise leichtfüßig durchsetzt mit Lego-Beats und schlauer Elektronik, ist noch eines der besseren Stücke in dem schwer durchschaubaren Baukasten, der "Amnesiac" heißt.
Nach dem Popularitäts-Rückgang in Großbritannien scheint der Backlash für die spinnerten Genies aus Oxford nun auch hier zu Lande unvermeidlich zu sein. Warten wir aber noch das nächste Album ab. Bis dahin dürfte es jetzt wieder drei Jahre dauern. Welch Erholung...
Radiohead: "Amnesiac" (Parlophone/EMI), veröffentlicht am 5. Juni 2001