"Es locken Geld und Freiheit"
Musiker Thom Yorke über die Zukunft des Showgeschäfts und das neue Album seiner Band Radiohead, das zunächst nur im Internet vermarktet wird - zu einem Preis, den der Käufer bestimmt


SPIEGEL: Mr Yorke, Musikkritiker feiern Sie wahlweise als Retter und Totengräber des Rock'n'Roll-Geschäfts, weil Sie ein Popalbum ganz ohne Hilfe einer Plattenfirma im Internet feilbieten. Wer hat recht?
Yorke: Ich habe den Satz, dass wir die Rockmusik retten, in den vergangenen Wochen so oft gehört, dass ich ihn mir demnächst auf Klopapier drucken lasse. Wir hätten niemals gedacht, dass die Aktion so viel Wirbel macht. In Großbritannien berichteten die Hauptnachrichten der BBC über die Angelegenheit, 60-jährige Börsianer gratulieren uns zu unserer fabelhaften Geschäftsidee, und Zyniker unterstellen uns natürlich, wir hätten einen genialen Werbecoup ausgeheckt. Aber das ist Müll.
SPIEGEL: Fest steht: Hunderttausende von Fans haben sich auf der Band-Website das jüngste Radiohead-Werk "In Rainbows" heruntergeladen und konnten selbst bestimmen, ob und wie viel sie dafür bezahlen. Auch wir haben uns das Album dort beschafft und erst mal keinen Cent überwiesen. Stört Sie das?
Yorke: Warum sollte es? Unsere Idee war: Jeder zahlt so viel für die Musik, wie sie ihm wert ist. Wenn Sie nach dem Hören meinen, dass unsere Songs nichts taugen, ist das natürlich bedauerlich. Falls Sie die Songs aber gern gehört haben, wäre es fair, nachträglich etwas dafür zu zahlen.
SPIEGEL: Ist es der Anfang vom Ende der vielgescholtenen Musikindustrie, wenn eine Band wie Radiohead, die zuverlässig Alben in Millionenauflage verkauft, sich entschließt, ihre Musik ohne Plattenfirma unters Volk zu bringen?
Yorke: Es ist ein unvermeidlicher Schritt, irgendwer musste ihn nur mal tun. Jeder wusste, dass es so kommen würde. Wir kennen einige berühmte Kollegen, die sich seit langem mit ähnlichen Ideen tragen. Immerhin locken Freiheit und auch eine Menge Geld. Aber diese Kollegen sind vertraglich gebunden. Wir hatten das Glück, dass unser Kontrakt mit der EMI auslief.
SPIEGEL: Trotzdem wird nun heftig spekuliert, ob Sie nicht viel weniger mit Ihrem neuen Werk verdienen als mit Hilfe eines Konzerns. Hat sich Ihr Experiment finanziell gelohnt?
Yorke: Wir nennen keine Zahlen. Aber wir klagen nicht. Immerhin haben wir nun das Copyright auf unsere Lieder. Alles, was wir früher veröffentlicht haben, gehört dagegen der EMI. Das ist wahnsinnig unbefriedigend. Schließlich geht es um Kunst und harte Arbeit. Ich glaube an das Rockalbum als künstlerische Ausdrucksform. "In Rainbows" ist eine bewusste Rückkehr zu dieser Art von 45-Minuten-Statement. Klar gibt es Möglichkeiten, sich kürzer zu fassen. Aber unser erklärtes Ziel war es, in 45 Minuten so kohärent und exakt und schlüssig wie möglich zu erzählen, was uns bewegt. "In Rainbows" ist, so jedenfalls sehen wir das, unser klassisches Album, unser "Transformer", unser "Revolver", unser "Hunky Dory" ...
SPIEGEL: ... Lou Reed, die Beatles und David Bowie waren auf der Höhe ihrer Schaffenskraft, als sie diese berühmten Alben aufnahmen. Welcher Ehrgeiz treibt die seit 16 Jahren existierende, höchst erfolgreiche Band Radiohead an die Arbeit?
Yorke: In den vergangenen Jahren gab es Zeiten, in denen wir darauf selbst keine Antwort wussten. Wir gründeten Familien, zogen unsere Kinder groß und lebten jeder vor sich hin. Aber dann hat es uns eines Tages wieder gepackt. Man steht an einem Freitag mit dem Auto im Stau, hinten heulen die Kinder, im Kofferraum köcheln die Einkäufe aus dem Supermarkt vor sich hin, es ist Sommer, das Wochenende des großen Festivals in Glastonbury. Im Radio läuft eine Hörerumfrage, man fragt, an welche Band die Leute die schönsten Glastonbury-Erinnerungen haben, und 76 Prozent der Anrufer stimmen für Radiohead. Und plötzlich schießt es einem durch den Kopf: Was mache ich hier? Würde ich nicht lieber dort auf der Bühne stehen? Und würde sich nicht sogar meine Familie freuen, wenn wir endlich nicht mehr schlechtgelaunt zu Hause herumhingen und wieder loslegten? Ja, genauso war's!
SPIEGEL: Bedauern Sie, dass vom angeblich oder tatsächlich wilden, revolutionären Geist, den Rockmusik in den sechziger und siebziger Jahren zum Ausdruck brachte, heute nichts mehr zu spüren ist?
Yorke: Nein. Musik ist immer ein Abbild ihrer Zeit. Wir leben in einer Konsumwelt. Deshalb ist Musik heute in erster Linie dazu da, eine Nachfrage zu befriedigen. Vielen Menschen dient die Entscheidung für eine bestimmte Art von Musik als Lifestyle-Bekenntnis, sie verknüpfen in gewisser Weise ihre Existenz mit der Musik, die sie hören, ohne dass sie dadurch tiefer berührt werden. Aber darüber hinaus wird es zu allen Zeiten Menschen geben, die sich wirklich leidenschaftlich mit Musik beschäftigen, für die es Lieder gibt, die tatsächlich ihr Leben verändern; Lieder, die ihnen die Augen öffnen über den Zustand der Welt.
SPIEGEL: Verachten Sie jene Popfans, die Ihre Musik bloß als Konsumgut nutzen?
Yorke: Nein. Sie tun mir leid. Denn für sie gibt es keine echte Befriedigung, sie müssen immer mehr, immer mehr, immer mehr Lieder zusammenraffen, als ob diese endlose Akkumulation ihnen Unsterblichkeit garantieren könnte.
SPIEGEL: Haben Sie je selbst einen Song im Netz heruntergeladen, womöglich umsonst?
Yorke: Nein, ich zahle immer, nur jetzt habe ich mir unser eigenes Album umsonst von unserer Website besorgt. Ich wollte die neuen Lieder meiner Mutter vorspielen und habe die Songs auf ihren Computer geladen. Ein Journalist bekam das heraus. Und verkündete natürlich sofort, ich würde nicht für Musik aus dem Internet bezahlen. Aber warum soll ich für mein Eigentum bezahlen und mein Geld praktisch von der einen in die andere Hosentasche schaufeln? Das wäre Quatsch.
SPIEGEL: Was war der höchste Preis, den ein Käufer im Internet für den Download von "In Rainbows" bezahlt hat?
Yorke: 99 Pfund und 99 Pence, dieses Limit hatten wir vorher festgesetzt.
SPIEGEL: Und wie viele Kunden waren bereit, so viel zu geben?
Yorke: Bisher genau 15. Und ich schwöre Ihnen: Wir Musiker gehören nicht dazu.
SPIEGEL: Warum bieten Sie neben dem Download auch eine aufwendige, rund 55 Euro teure CD- und LP-Box im Netz an? Weil die komprimierte Musik aus dem Internet, wie viele Fans klagen, mies klingt?
Yorke: MP3-Dateien aus dem Netz hören sich nie optimal an. Wir hatten immer vor, eine reguläre CD zu veröffentlichen und später in die Läden zu bringen. Wir haben überlegt, ob wir auch diese CD selbst herstellen und vertreiben lassen, aber das war doch zu schwierig. So haben wir uns eine kleine Plattenfirma als Partner gesucht.
SPIEGEL: Gibt es eigentlich auch irgendwas, das Sie traurig finden am Niedergang der verteufelten Musikindustrie?
Yorke: Klar. Zum Beispiel schließen die Konzerne nun all die schönen alten Aufnahmestudios. Damit geht ein Handwerk verloren, eine wertvolle Tradition. All die akustischen Bässe und alten Mikros und großartigen Instrumente werden verscherbelt. Wir bemühen uns, möglichst viel davon zu kaufen, um es für unsere eigene Arbeit zu verwenden, aber es ist nicht dasselbe, wie wirklich dort zu arbeiten in einem der alten Studios.
SPIEGEL: Klingt, als seien Sie ein Nostalgiker. Wie stark nutzen Sie das Zukunftsmedium Internet, kennen Sie sich aus in "Second Life" und MySpace?
Yorke: Oh, "Second Life", ist das diese Welt, in der man sich und seinem zweiten Ich Grund und Boden und ein Haus und eine Sonnenbrille kauft, dann in eine virtuelle Bar geht und hallo sagt? Ich will das nicht. Für mich offenbart sich darin die Isolation vieler Internet-Nutzer, die zu viel Zeit haben. Traurig. Da tausche ich mich lieber in der realen Welt aus.
SPIEGEL: Lesen Sie, was in den Internet-Blogs über Sie geschrieben wird?
Yorke: Nein. Wir lesen auch nicht, was Kritiker über uns schreiben. Nie. Wer das tut, hört plötzlich jede Menge fremder Stimmen in seinem Kopf. Und in meinem Kopf schwirren schon genug herum.