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Das Warten auf die Ruhe nach dem Sturm
Mit herausragenden Platten ist es wie mit gutem Wein: Wahrscheinlich läßt sich schon beim ersten Probieren feststellen, ob das entsprechende Konsumgut besser ist als andere. Ob es sich allerdings um einen wahren Klassiker handelt, zeigt sich zumeist erst nach reiflichem Antesten und ausgiebigem Genuß. „OK Computer", die aktuelle Weinrebe Radioheads, scheint sich zusehends als der ultimative musikalische Beaujolais-Jahrgang der 90er Jahre zu behaupten.
by Sascha Krüger



Eigentlich sollte man vorsichtig sein mit dem Gebrauch des Attributes ‘All Time Favourite’, denn es liegt in der Natur der Sache, daß es von eben solchen nicht allzu viele geben kann. Ein jeder Musikbegeisterte hat einige wenige Alben dieser Art, die man immer und immer wieder aus dem Regal zieht, weil sie im Lauf der Jahre und mit jedem Hören nicht etwa langweiliger, sondern kontinuierlich besser werden und an Größe gewinnen. Die Bezeichnung für eine solche Platte ist zu ultimativ, zu final, zu wichtig, um damit die x-beliebige Veröffentlichung einer Band auszustatten. Dies ist der heilige Gral, der Supercup, das Tüpfelchen auf dem i, das Non-Plus-Ultra, der Logenplatz im Musik-Olymp. Rien ne vas plus - nichts geht mehr. Welcome to Rock’n’Roll-Heaven.
Radiohead, „die schüchternsten, coolsten und smartesten Megastars des Planeten" (NME), „die größte Band seit den Beatles" (Mojo), „die ultimativen Popstars" (Q Magazine), die Band, „die so gut ist, daß sie mir Angst machen" (REM’s Michael Stipe), scheinen mit „OK Computer", da ist sich die globale Musikpresse ausnahmsweise mal einig, ein solches Album erschaffen zu haben. Die wahre Größe und Genialität dieses akustischen Ausnahmezustandes offenbart sich, wie bereits erwähnt, nicht sofort und unmittelbar. Diese Bombe explodiert nicht mit einem lauten Knall, um anschließend sang- und klanglos zu verpuffen, sie zündet stufenweise. Ihre Detonationskraft ist dafür umso gewaltiger.
Du hörst das Album einmal und befindest das durchaus gefällige, aber trotzdem nicht wirklich eingängige Stück gitarrenbetonter Musikgeschichte für okay. Du hörst es ein weiteres Mal, und ein gewisser Wiederkennungseffekt stellt sich ein, der ein tiefergehendes Interesse weckt. Du gibst dich „OK Computer" zum fünften Mal hin und beginnst plötzlich, einzelne Lieblingssongs zu entdecken, auch wenn dir die recht komplexen und nuancenreichen Songstrukturen mitunter noch etwas fremdartig und manche Melodien vielleicht einen Hauch zu schwülstig anmuten. Kein Wunder, dies ist echte Gänsehaut-Musik voller Klangfacetten, deren unterschwellige Brillanz im kompositorischen Detail steckt. Eben jene beginnst du ab dem zehnten Durchlauf zu entdecken, doch dann ist es sowieso zu spät, es ist längst um dich geschehen. Dein Ohr hat sich unwiderruflich in einem klebrigen Spinnennetz der verklärten Schönheit verstrickt. Die Melodien lassen dich nicht mehr los. Sie haben sich in deinem Kopf eingenistet, sind omnipräsent, nachts träumst du von ihnen, noch Tage später geistern sie in den hintersten Winkeln deiner Hirnrinde. Jeder einzelne Song wird zu einem Lieblingssong. Für einen kurzen Augenblick steht die gesamte Musikwelt still, und du weißt, du hältst einen Klassiker in den vor lauter Ergriffenheit schweißnassen Händen: „OK Computer" ist ein Album für die Ewigkeit.

London Calling
Die geheime Mission von Agent 00 Krüger im Auftrage ihrer Majestät Lohrmann klingt verlockend: Gefragt ist ein investigativer Frontbericht von Englands derzeit meistgefragter und ausnahmsweise mal zu Recht hochgehypter Band. Das erste konspirative Treffen ereignet sich in London, genauer gesagt in einer der wohl atmosphärischsten Konzerthallen Europas, der Brixton Academy. An diesem Ort soll eine detaillierte Überprüfung ihrer Live-Qualitäten stattfinden. In der Masse der rund 2.000 begeisterten, um nicht zu sagen hysterischen Besucher gelingt es dem Meisterspion dank modernster Verhüllungstechniken wie Sonnenbrille und falschem Haarteil unerkannt zu bleiben. Hier sein Bericht:
Diese Band ist groß, sogar noch weitaus großartiger als auf Konserve. Denn zu der perfekten konzertanten Umsetzung ihrer Songs, die sich aus den drei bisherigen Longplayern rekrutieren (wobei der Schwerpunkt natürlich auf dem neuen Werk liegt), gesellt sich ein an Dichte und Dynamik nicht zu übertreffender Gesamtsound, der sogar noch intensiver und packender wirkt als der Gesamtklang ihrer Platten. Die elegischen, zum Teil fast sakral anmutenden ruhigen Passagen ihrer Songs sind noch fragiler und diffiziler, die lauten, ungestümen Rockelemente hingegen bestechen durch urplötzliche, rotzig-rohe Gitarren-Wutausbrüche. Und über allem thront die zerbrechliche Stimme Thom Yorkes, die mit ihrer tieftraurigen Reinheit dem Wort ‘Melancholie’ eine neue, unberührte Bedeutungsebene verleiht.
Dieser makellose Vortrag wird visuell ergänzt durch eine zwar spartanische, aber umso wirkungsvollere Lightshow. Es dominieren überwiegend dunkle Farben, nur punktuell wird gleißend weißes Licht oder ein Stroboskop-Gewitter eingeworfen. Ein latenter, auf der ganzen Bühne gleichmäßig verteilter Dauernebel verleiht den fünf oft nur silhouettenartig auszumachenden Gestalten einen regelrecht mystischen Anstrich. Fast alle Musiker verharren mehr oder minder reglos an ihren Plätzen, lediglich Gitarrist, Keyboarder und Xylophon-Bediener Johnny Greenwood gefällt sich in klassischen Mattenschüttel-Rockerposen. Wer bisher dachte, mit altbekannten, ordinären Rockkonzert-Mitteln sei nichts Neues, bisher Ungekanntes mehr zu erschaffen, wird eines Besseren belehrt. Und den in Sachen Konzertbewertung recht routinierten Meisterspion, der dachte, daß ihn aufgrund seiner Erfahrung so schnell kein Rockkonzert mehr aus der Bahn werfen könnte, befällt am ganzen Körper ein wohliger, lange anhaltender Dauerschauer, und gegen Ende des Gigs stehen ihm gar die Tränen in den Augen. Könnte man das Wort ‘Gefühl’ vertonen, es klänge wohl wie ein Konzert von Radiohead.

Erklärungsversuche eines brillanten Geistes
Am Tag darauf kommt es zum ultimativen Showdown. Auf dem Weg zur nächsten Gastspielstätte Brighton treffe ich im Tourbus auf den höchst introvertierten, als schweigsam und verschroben geltenden Frontmann der Band. Ein zutiefst ungewöhnlicher Umstand, denn normalerweise überläßt Thom Yorke, der nichts mehr haßt als Foto-Shootings und lästige Interviews, die gesamte enervierende Promotionarbeit den übrigen vier Bandmitgliedern. Pressegespräche mit Yorke sind ausgesprochen selten, und selbst wenn zum Termin unter vier Augen geladen wird, sollte man nicht gleich auf seine Kommunikationsfreudigkeit bauen: Ein Autor des Stern wurde neulich nach einem knapp 15minütigen Smalltalk freundlich verabschiedet... Naheliegende Vorbehalte gegenüber dem Verlauf unseres Gespräches - Thom gilt, wenn er überhaupt spricht, als kaum verständlicher, verquerer, um nicht zu sagen spinnerter Interviewpartner - lösen sich jedoch innerhalb von Minuten in Luft auf. Im Gegenteil: Die folgenden eineinhalb Stunden Interview sind geprägt von einem immens hohen Gesprächsniveau fernab jeder Phrasendrescherei. Zugegeben, seine oft komplexen und in druckreifem Stil vorgetragenen Gedankengänge fordern die volle Konzentration beider Gesprächspartner. Zuweilen vergräbt er seinen Kopf minutenlang in einem großen Kissen, das er vor seinem Bauch umschlungen hält wie ein Kind seinen Teddybär, wahrscheinlich, um seine Gedanken neu zu ordnen oder seine Wortwahl noch weiter zu präzisieren, aber wer weiß schon so genau, was in einem so intelligenten und reflektierenden Geist konkret vor sich gehen mag. Viele seiner Antworten fallen derart ausführlich aus, daß sie hier leider nur stark verkürzt wiedergegeben werden können.
Zunächst erkundige ich mich nach seinem Eindruck vom gestrigen Abend und bezeuge ihm meine vollste Ehrerbietung über das vorangegangene Live-Ereignis. Zu meiner Verwunderung ist er überhaupt nicht zufrieden: „Gestern war es mal wieder ziemlich grauenhaft. Die Chemie stimmte einfach nicht. Ed (O’Brien, der zweite Gitarrist - Anm. d. Verf.) und ich waren schon vor dem Auftritt schlecht zurecht, und das Londoner Publikum ist darüber hinaus so unerträglich sophisticated, daß es mich schaudert." Aber die allgemeine Stimmung war doch großartig, die Fans hingen an deinen Lippen und skandierten geschlossen jedes einzelne Wort mit. „Wenn das deine Vorstellung von einem gelungenen Konzert ist, dann scheinen unsere Auffassungen diesbezüglich wohl grundsätzlich zu divergieren. Dieses partymäßige Abfeiern einer Band gehört ganz sicher nicht zu meinen Bewertungskriterien eines gelungenen Konzertes. Die einzige noch schlimmere Stufe dieser unerträglichen Auswüchse ist Crowdsurfing und Stagediving." Daher also auch die überall im Venue aufgehängten Plakate, die in großen Lettern verkünden: ‘No Stagediving, please!’ Aber zurück zum Thema: Was zeichnet deiner Meinung nach denn ein gutes Konzert aus? „Ausschlaggebend für die positive Bewertung eines Konzertes ist ganz sicher nicht, ob das Publikum ganz viel Spaß hat oder nicht. Vielmehr ist es ein bestimmter Vibe, eine ganz spezifische Stimmung, die entsteht, wenn es uns gelingt, über die Songs eine sehr intime Verbindung zum Publikum aufzubauen. Das war gestern schon durch die örtlichen Gegebenheiten völlig unmöglich, denn der Security- und Fotograben war extrem breit, so daß bereits die räumliche Distanz ein Gelingen unmöglich gemacht hat. Es war wieder mal eines der Konzerte, bei denen wir gegen ein gähnendes Loch schwarzer Leere angespielt haben."
Wie steht es denn heute mit der persönlichen Verfassung? Hat sie sich gebessert, auf daß man heute abend möglicherweise ein aus deiner Sicht gelungeneres Konzert erwarten kann? „Unsere Stimmung ist in der aktuellen Lage allgemein nicht die beste, die Tagesform wechselt lediglich zwischen ‘beschissen’ und ‘gerade noch erträglich’. Der Grund dafür ist offensichtlich: Wir sind nun schon seit geschlagenen zwei Monaten fast ohne jegliches Off-Date auf Tour, erst in den USA, und jetzt hier in England. Und abgesehen vom Touring gibt es auch noch eine Menge anderer Dinge, die so ganz nebenbei gemacht werden müssen, so wie dieses Interview hier zum Beispiel. Seit nunmehr acht Wochen haben wir alle nicht die geringste Zeit gehabt, uns einmal um persönliche Belange zu kümmern oder einfach mal abzuschalten. Das einzige, was mich diesen ganzen Kram noch weiter machen läßt, ist die Gewißheit, daß es uns alle weiter bringt, daß es der Band hilft. Und das nicht nur in puncto Erfolg, es sind diese gemeinsamen Erlebnisse, die uns immer mehr zusammenschweißen. Die bandinterne Chemie wird kontinuierlich besser. Was aber meine momentane körperliche und psychische Verfassung betrifft, so befinde ich mich in einem Zustand des Vor-mich-hin-Vegetierens, den ich mir angeeignet habe, um all diese täglichen Eindrücke und Erlebnisse einfach an mir abprallen zu lassen. Denn wenn ich mich mit allem ernsthaft auseinandersetzen würde, was mir so tagtäglich widerfährt, wäre ich schon längst wahnsinnig geworden."
Bisher scheint es ihm offensichtlich noch recht gut zu gelingen, die Übersicht in diesem Erlebnis-Chaos zu behalten. Allerdings gestaltet sich diese Konzentration auf das Wesentliche zusehends schwerer, denn „es ist wirklich nicht einfach zu entscheiden, welche dieser täglichen Erlebnisse wohl einen Einfluß auf deine Persönlichkeit nehmen werden, wenn dir deine eigene innere Mitte völlig abhanden gekommen ist. Das letzte Mal, daß diese mir bewußt begegnet ist, war in einem Hotelzimmer in New York," scherzt er, „ich war zu verkatert, um sie einzupacken. Wahrscheinlich hängt sie dort immer noch auf einem Bügel im Kleiderschrank." Seitdem er nun quasi persönlichkeitslos durch die Welt irre, sei er ausschließlich auf Erfahrungswerte und Intuition angewiesen, denn er fühle sich „inzwischen absolut überfordert damit, rational zu entscheiden, was wichtig und was nebensächlich ist. Diese Grenzen verwischen immer mehr."
Eine weitere Tatsache quält seinen höchst zerbrechlichen Geist, denn das, was er bis dato als die Erfüllung seiner Wunschträume begriff, nämlich das Spielen vor Tausenden von ihm wohlgesonnenen Anhängern seiner Musik, mutiert zusehends in harte körperliche Arbeit ohne den geringsten Befriedigungsfaktor. „Es ist eine Schande, daß es so weit gekommen ist, denn zu Beginn der Tour waren wir so motiviert wie noch nie. Entsprechend haben wir bei den ersten Konzerten in den Staaten wirklich alles gegeben, was in uns steckt, und natürlich waren wir bemüht, diesen extrem hohen und kräftezehrenden Level beizubehalten. Doch nach ein paar Wochen stößt du ganz automatisch an deine physischen Leistungsgrenzen und dein Körper sagt dir: `Mann, schalte mal einen Gang runter, sonst spiele ich nicht mehr mit!` Diese physischen Wände tun sich mittlerweile jeden Abend vor uns auf. Manchmal stehe ich abends auf der Bühne und mein ganzer Körper versucht mich zu überzeugen, daß es das coolste wäre, auf der Stelle und mitten im Gig in Tiefschlaf zu verfallen. Damit einher geht natürlich auch deine psychische Verfassung. Es existieren dermaßen viele Eindrücke, die auf dich einprasseln und in deinem Kopf herumschwirren. Aber du hast schlicht und ergreifend nicht die Zeit, dich angemessen mit ihnen auseinanderzusetzen."
"Ein weiterer negativer Nebeneffekt ist die Tatsache, daß dich deine eigenen Songs anfangen zu nerven, weil du sie spielen mußt, ob du willst oder nicht. Das ist ein zutiefst unbefriedigendes Erlebnis."
Wie erwehrt man sich solcher Momente? „Du mußt konsequent sein. Eine ganze Zeit lang haben wir z.B. `Creep` überhaupt nicht gespielt, weil wir es einfach nicht mehr hören konnten. Und nicht selten habe ich auf dieser Tour einen Song mittendrin abgebrochen, wenn ich bemerkte, daß ihn die ganze Band nur noch lustlos herunterspielte und nicht mehr wirklich bei der Sache war."
Offensichtlich stößt ihr Erfolg langsam in Dimensionen vor, die ihm unheimlich anmuten. Die Konzerthallen, in denen sie gastieren, seien inzwischen einfach zu groß, um noch wirkliche Intimität erzeugen zu können, meckert er, und außerdem verlören sie immer mehr die Kontrolle über die Auswüchse ihrer Popularität. Nicht umsonst schließt ihr aktuelles Presseinfo mit dem Satz: „Fame can be a scaring thing." Was genau macht dir Angst an eurem wachsenden Erfolg? „Ich kann einfach diesem allgemeinen und fundamentalen Irrglauben nicht zustimmen, daß man durch einen gewissen Erfolg in eine andere Sphäre des Lebens vorstößt und irgendwie `wichtiger` wird als andere Menschen, daß sozusagen deine Sterblichkeit relativiert wird. Genau dieser Punkt läßt die meisten Menschen nach Ruhm streben. Ich halte diese Einstellung für völlig gestört, denn nur weil einem ein gewisser Zuspruch für sein Schaffen widerfährt, wird er doch zu keinem privilegierten Lebewesen. Jetzt, wo ich selber in dieser Situation stecke und erlebe, wie mich wildfremde Menschen für etwas Besonderes halten, wirkt die ganze Situation noch viel gestörter auf mich. Es ist..." ...vorbei, Thom scheint an einem Punkt, wo ihm die zu Verfügung stehenden verbalen Mittel ein weiteres Erläutern offensichtlich unmöglich machen. Als Folge daraus verkriecht er sich wieder in sein Kissen. Wie geht man denn mit einer Situation um, der er sich offenbar nicht gewachsen fühlt und die man noch nicht einmal adäquat in Worte kleiden kann?
„Im Moment komme ich ganz gut damit zurecht, denn auf Tour bekommst du nicht viel mit von dem, was im `normalen` Leben so abgeht, und ich lasse auch nur möglichst wenig von all dem an mich heran. Außerdem sind die Dinge nun mal so, ich kann es ja doch nicht ändern. Was Radiohead betrifft, so scheint mir der Umstand, daß wir auf einmal berühmt sind, in gewisser Weise auch gerechtfertigt, denn offensichtlich ist uns mit `OK Computer` ein Album gelungen, mit dem sich eine Menge Leute identifizieren können, und da ist es nur natürlich, daß sich diese Leute auch für die Menschen hinter dem Album interessieren. Diesen Aspekt am Erfolg finde ich überhaupt sehr aufregend, daß du etwas erschaffst, was aus dir heraus entsteht, was also quasi Teile deiner ganz individuellen Persönlichkeit reflektiert, und was trotzdem von so vielen anderen Menschen verstanden und nachvollzogen werden kann. Als beispielsweise die Smiths ihr `The Queen Is Dead`-Album oder REM `Automatic For The People` herausbrachten, da dachte ich: `Ja, das ist es, ich verstehe euch, ihr sprecht meine musikalische Sprache!` Und jetzt beobachte ich, wie es anderen mit unseren Songs ganz ähnlich geht. Diese Bestätigung ist so ziemlich das Größte, was dir widerfahren kann, denn es zeigt dir, daß du mit deinem Tun auf dem richtigen Weg bist. Diese Reaktion und die damit verbundene Gewißheit, daß man offensichtlich etwas erschaffen hat, was zumindest ansatzweise eine `Queen Is Dead`-Qualität aufweist, läßt alle anderen negativen Begleiterscheinungen nebensächlich werden. Seiner Arbeit auf diese Weise eine gewisse Bedeutung zu verleihen, ist wirklich cool."
Gar nicht cool findet er hingegen die Art und Weise, mit der die allgemeinen Massenmedien, die aber immerhin einen recht großen Anteil an ihrem Erfolg ausmachen, mit ihnen umspringen. Ihn wurmt es, daß man als Band zu einem der Allgemeinheit zur Verfügung stehenden Konsumgut verkommt, dessen Image und die damit einhergehenden spezifischen Charakterzüge nach Belieben modifiziert werden können und aufgrund dessen nicht selten jeglichen Realitätsbezug entbehren. Natürlich ist es nachvollziehbar, daß jede Gazette (ebenso wie jeder Radio- und Musikkanal) über möglichst exklusive Insiderinformationen eines Stars verfügen möchte, um die eigene Credibility und Fachkompetenz auf diese Weise zu untermauern und sich somit von der Konkurrenz abgrenzen zu können. Allerdings ist dieses Reservoir an intimen Exklusivinfos bei einem derart ausgeprägten Medieninteresse, wie es Radiohead derzeit widerfährt, ziemlich bald erschöpft. Die daraus resultierende Konsequenz: entweder wird das bereits mehrfach aufgekochte Infosüppchen ein weiteres mal auf den Herd gestellt (was aber keinem so recht schmecken mag), oder es wird der Phantasie freien Lauf gelassen, um sich mit zwar ungleich brisanteren, aber eben nicht der Wahrheit entsprechenden Sensationen brüsten zu können. Diese ‘fiktiven Tatsachen’ begegnen Thom inzwischen nahezu täglich und lassen sich auch verschmerzen, solange ihr Inhalt eher trivialer Natur ist. Immer häufiger jedoch nehmen diese Hirnergüsse schreibgewandter, als Journalisten getarnter Geschichtenerzähler untragbare Formen an, wie zuletzt, als britische Printmedien dem Sänger eine kurz vor ihrer Realisierung stehende Selbstmordsehnsucht andichteten - eine aus akutem Streß resultierende vorübergehende Unpäßlichkeit wurde hier zugunsten eines reißerischen Aufmachers vorsätzlich mißdeutet. Inwieweit hat sich sein Verhalten gegenüber den Medien durch diese Erfahrungen verändert?
„Ich lasse sie inzwischen einfach so wenig wie möglich über mich wissen. Ich denke, es war ein grundlegender Fehler meinerseits, anzunehmen, man könnte sich auf diese Weise zu gewissen Standpunkten bekennen oder sich erklären. Du brauchst dir doch nur einmal anzusehen, wie willkürlich diese ganzen Revolverblätter mit dem Tod von Lady Di umgehen, und das, obwohl sie eine durch und durch öffentliche Frau war, die wie kaum eine andere versucht hat, ihr Handeln, ihre Gefühle, ihr ganzes Leben den Medien zu erklären. Ich habe keine Ahnung, wie viele verschiedene `endgültige Wahrheiten` ich schon über Radiohead gelesen habe, die absolut gar nichts mit uns zu tun haben. Wenn ich also hingehen und ihnen wirklich die Wahrheit über uns erzählen würde, so ginge diese `wahre Wahrheit` in dem Wust von `falschen`, also erfundenen Wahrheiten völlig unter und könnte nur ein paar kleine unbedeutende Details zu der großen, künstlichen Medien-Gesamtwahrheit hinzuaddieren. Insofern ist es auch völlig irrelevant, ob du mißverstanden wirst oder nicht, denn diese `Medienwahrheit` fernab aller Tatsachen hat ein derartiges Eigenleben, daß du sie sowieso nicht bewußt steuern kannst. Es ist eine zwiespältige Angelegenheit: auf der einen Seite mußt du zwar notgedrungen mit ihnen zusammenarbeiten, auf der anderen Seite darfst du sie aber auch nicht zuviel über dich wissen lassen."
Werden sich diese veränderten Lebensumstände irgendwie in zukünftigem Songwriting niederschlagen?
„Davon bin ich überzeugt. In welcher Form dies geschehen wird, kann ich allerdings zum jetzigen Zeitpunkt nicht genau sagen. Dies läßt sich, wenn überhaupt, erst rückblickend definieren, wenn die Songs geschrieben sind. Ein erster Versuch, die aktuellen Geschehnisse um mich herum zu kommentieren und zu bewerten, besteht darin, daß ich mir angewöhnt habe, die tagtäglichen Ereignisse aufzuschreiben, damit möglichst wenig davon verlorengeht. Diese persönlichen fragmentarischen Erlebnisberichte füllen inzwischen mehrere Bücher, und jedesmal, wenn ich in diese Aufzeichnungen schaue, um mich an einzelne Situationen zu erinnern, schießt es mir durch den Kopf: `Oh dear, you`ve gotta calm down`, bevor es wirklich zu viel wird. Es ist eine dumme Zwickmühle: die eine Hälfte in mir möchte all diese Dinge notieren, damit ich über eine Art Tagebuch verfüge, das meiner Erinnerung auf die Sprünge helfen kann, doch die andere Hälfte in mir möchte diese ganzen Erlebnisse am liebsten auf der Stelle vergessen, damit sie mich nicht gänzlich überfordern."
Es hätte aber in Anbetracht der regelrecht hysterischen Hype-Tatsachen noch viel schlimmer kommen können:
„In Europa, insbesondere hier in England, wurde `OK Computer` seitens unserer Plattenfirma geradezu `über-hyped`, aber das ist ja bekanntlich ein britisches Phänomen, gegen das du als Band völlig machtlos bist. Glücklicherweise scheinen jedoch die Fans, die zu unseren Konzerten kommen, keine Folge dieses Mega-Hypes zu sein. Zu Beginn unserer England-Tour beschlich uns nämlich die Angst, daß sich auf unseren Konzerten nun vornehmlich Trend-Hörer einfinden, die auf der Welle dieses Hypes mitreiten wollen. Doch überraschenderweise scheint uns diese große, fette, häßliche Hype-Maschinerie weitestgehend verschont zu haben."
Auf der just abgeschlossenen Nordamerika-Tour hingegen habe die allgemeine Hysterie deutlich skurrilere Formen angenommen:
„Zum ersten Mal in unserer Karriere haben wir auf der dortigen Tour diese typischen Superstar-Begleiterscheinungen zu spüren bekommen, mit Menschenmassen, die sich um deine Limo drängen und dir fast die Scheiben einschlagen. Und dort trat auch das oben geschilderte Phänomen des Trend-Hörers verstärkt auf. So war z.B. das Konzert in Toronto ein absoluter Wendepunkt unserer Tour-Karriere: Wir spielten dort in einer ausverkauften 6.000er-Halle, und wirklich alles lief falsch. Es begann mit einer wahren Stagediving-Orgie - mir ist eh` völlig schleierhaft, wie man zu unserer Musik stagediven kann -, und der Großteil des Publikums bestand aus Kids unter 16. Während ich also vor diesen Kindermassen auf der Bühne stehe, wird mir klar, daß ich auf diese erschreckende Entwicklung reagieren muß. Aber wie? Diese Situation war derart seltsam, daß mir absolut kein Rezept eingefallen ist. Ich wußte ja noch nicht einmal, was ich zu denen zwischen den einzelnen Songs hätte sagen sollen. So haben wir das komplette Set gespielt, ohne auch nur den Ansatz einer Verbindung mit dem Publikum herstellen zu können. Ich meine, du stehst vor 6.000 angeblichen Fans, und nicht einer scheint den Kern deiner Musik und den Sinn dieses Konzertes wirklich zu verstehen. Ich kam mir vor wie ein beschissener Tanztee-Unterhaltungskünstler, and nobody gives a fuck! That`s sick!"
Doch in solchen Momenten beweist sich die wahre Größe eines Vollblutmusikers und Realisten. Anstatt sich nach solchen Alptraum-Erlebnissen mit einer Flasche Jack Daniels ins Hotelzimmer zurückzuziehen und den verlorenen Werten der wahren Fan-Kultur hinterherzutrauern, lernt man seine Lektion daraus und konfrontiert sich mit den tragischen Tatsachen.
„Man darf sich nichts vormachen, die Regeln eines Livegigs haben sich in den letzten Jahren grundlegend geändert: ein Konzert heißt heutzutage nicht umsonst Show, und wir Musiker haben alle Attribute eines Entertainers zu erfüllen. Eine einwandfreie musikalische Darbietung ist heute einfach zu wenig, du mußt dir darüber hinaus präzise Gedanken über eine umfassende Allround-Unterhaltung machen, was wiederum eine Menge deines kreativen Potentials auffrißt. Die meisten Hallen, in denen wir während der USA- und der England-Tour gespielt haben, waren unfaßbar ekelhafte, riesengroße, potthäßliche, schwarze Löcher der Widerlichkeit mit einer grauenhaften Akustik, die du irgendwie mit Atmosphäre zu füllen hast. Wir sind uns dieser Verantwortung absolut bewußt und versuchen, das beste daraus zu machen, ohne uns jedoch selbst zu verleugnen, indem wir zur Party-Kapelle mutieren. So geben wir beispielsweise Unmengen von Geld für adäquate PA-Anlagen aus, indem wir die Soundsysteme schon lange im voraus auf die jeweiligen Akustikbedürfnisse der entsprechenden Halle abstimmen, anstatt mit einer Standard-PA herumzureisen. Gleiches gilt für das Licht: Wir haben so lange an der Lightshow gefeilt, bis wir mit möglichst wenig Mitteln den größtmöglichen Effekt erzielten. Wir versuchen so, den aktuellen Entwicklungen im Rockbiz Rechnung zu tragen, ohne uns zum Affen zu machen und zu einem Rockstar-Abziehbild zu verkommen. Ich denke, ich mache den Job des Frontmannes inzwischen lange genug, um zu wissen, was ich wie und zu welchem Zeitpunkt sagen müßte, um das Publikum augenblicklich auf meine Seite zu ziehen und alle glücklich zu machen. Aber das kann und will ich nicht, denn das entspräche absolut nicht meinem Wesen."
Diese Crux zwischen der Wahrung der eigenen Persönlichkeit und dem Anpassen an die gängigen Musikmarkt-Mechanismen ist natürlich nicht beschränkt auf die Live-Situation einer Band. Es erstreckt sich in gleicher Weise auch auf alle anderen Bereiche dieser Branche: Image- und Vermarktungsstrategien, Videoclips, die Darstellung in den Massenmedien, Band-Fotografie und -Artwork etc. Alle Details also, die dazu herangezogen werden können, einer Band im überfüllten Markt der alternativen Gitarrenmusik-Szene unverwechselbare Charakterzüge und ein möglichst einzigartiges Äußeres mit maximalem Wiedererkennungsfaktor zu verleihen.
„Die Intentionen des Konsumenten, eine Band zu mögen, verlagern sich immer mehr weg von der Musik und hin zu Mode-Aspekten. Die Fans einer Band verbindet immer seltener die eigentliche Musik, ihr Fanatismus definiert sich vielmehr über das Teilen eines gemeinsamen Medien-Erlebnisses. Sie benutzen die Band somit als Vehikel, um eine gewisse Szene-Zugehörigkeit zu demonstrieren, so ähnlich wie bei Markenklamotten. Entsprechend gewinnen die nicht-musikalischen Aspekte einer Band immer mehr an Bedeutung: Was hat der Sänger an, was hat der Gitarrist für einen Haarschnitt und dergleichen mehr."
Nichtsdestotrotz ist seine allgemeine Grundstimmung über die Entwicklung von Radiohead eine durchaus positive, wie er mir versichert. Das ganze Drumherum gehöre nun mal einfach dazu. Würde er mir aufgrund dessen zustimmen, daß er im Moment die aufregendste und schönste Zeit seines bisherigen Lebens erlebt?
„Die beste Zeit meines Lebens beginnt hoffentlich in etwa acht Monaten, wenn dieser ganze Wahnsinn um uns herum erst mal ein Ende hat und ich zum ersten mal wieder die Gelegenheit habe, mich hinzusetzen und das Erlebte zu reflektieren und zu verarbeiten, um das für mich Nützliche herauszufiltern. In den letzten Wochen, bevor das Album erschien, hatte ich fast jede Nacht einen Traum von riesengroßen schwarzen Monsterwellen, die die ganze Stadt, in der ich in diesem Traum wohnte, zu verschlingen drohten. Ich rannte splitternackt immer wieder am Strand dieser Stadt auf und ab, um diesen riesigen Wellen irgendwie zu entkommen. Die Ereignisse der vergangenen Monate haben mir die Symbol-Ebene dieses Traumes klar gemacht: Im Moment wird es von Tag zu Tag schwieriger, in diesem Unwetter der Sinnesreize, in dem ich mich zur Zeit befinde, nicht unterzugehen. Doch irgendwann kommt immer eine Ruhe nach dem Sturm."

Ende gut, alles gut
Das Konzert am gleichen Abend in Brighton, Englands traumhaft schöner Alternative zur Cote d’Azur, geht in einer dieser unsäglichen Mehrzweckhallen mit sozialistischem 70er-Jahre-Chic über die Bühne. Und obwohl die äußeren Umstände denkbar ungünstig erscheinen und auch das Publikum hier, im Gegensatz zu dem in London, überwiegend aus Teenies besteht und trotz der Verbote zaghafte Crowdsurf-Versuche unternimmt, scheint die Chemie heute zu stimmen. Das gesamte Konzert über weigert sich die fast unerträglich intensive Gänsehaut standhaft, von meinem Körper zu weichen, und rings um mich herum vergessen pubertierende Mannsbilder den Macho in sich und ergehen sich in hemmungslosen Gefühlsausbrüchen. Und gegen Ende des Konzertes finde ich mich in einem Meer wild knutschender Teeniepärchen wieder und bin um eine Erfahrung reicher:
Wahrscheinlich ist es das, was Thom mit ‘Vibe’ gemeint hat.