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Zirkus Maximus
Viel wurde geschrieben, gemutmaßt und im Vorhinein interpretiert. Jeder wollte wissen, wie er wohl klingt, der Nachfolger zu „OK Computer“, diesem jungen Klassiker, der bei vielen Menschen direkt hinter einem Beatles-Album auf Platz zwei der wichtigsten Platten aller Zeiten landet. Würde diese emotionale Intensität, dieses audiophile Aufgebahren gegen substanzlose Fast Food-Musik noch zu toppen sein? Eine Antwort auf diese Frage sucht man auf „Kid A“ vergebens. Überhaupt muss man konstatieren: Diese Platte wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet.
by Sascha Krüger



Das Album

Jetzt also ist es da, „the most anticipated album of the year“, das „Ereignis des Jahres“, das Stückchen Musik, das schon im Vorfeld für einen grenzenlosen Spekulationswahn der versammelten britischen Popkultur-Medien sorgte. Können zehn Songs so viele Worte wert sein? Kann man es nicht auch übertreiben mit sprachgewaltigen Metapher-Massakern, die am Ende nur ihre Unfähigkeit vereint, dieses wundersame Konzeptalbum erklären zu wollen?
Sicher, verständlich ist es schon, das Verlangen nach einer halbwegs greifbaren Interpretation, denn so viel ist klar: „Kid A“ wird musikhistorisch bedeutsam. Noch viele Sätze werden in den nächsten Jahren darüber geschrieben, gesprochen und gesendet werden. Vielleicht wird man eines Tages darüber philosophieren wie über das weiße Album der Beatles, „Pet Sounds“ von den Beach Boys oder Pink Floyds „Wish You Were Here“. Ganz egal, was man nun von „Kid A“ hält, ob man es liebt, als zu verkopft einstuft oder einfach nicht versteht: Wer sich auch nur ansatzweise dafür interessiert, was aus Musik werden kann, sollte sich mit dieser Platte zumindest beschäftigt haben. Denn so etwas wie „Kid A“ hat die Welt in dieser Form noch nicht gehört.
Es gibt ihn noch, den - in der tiefsten Bedeutung des Wortes - innovativen Klang, die neuartige Stimmung, die einem ganz tief ins Mark geht. Die ganz großen Gefühlen deluxe waren bekanntlich schon immer Radioheads Stärke, doch noch nie wurden sie so verflucht individualistisch präsentiert wie hier. Zwar ist die gesamte Atmosphäre des Albums noch ruhiger als die der vorherigen, verstörend wirkt sie dennoch, zumindest bei den ersten Durchläufen. Auch später, wenn man sich damit angefreundet hat, dass „Kid A“ sehr anders instrumentiert und arrangiert ist, gibt es Songs - oder besser gesagt Passagen des Gesamtkonzeptes -, deren Sinn sich nicht bis in die letzte Konsequenz erschließen will.
Wie soll man zum Beispiel mit „Treefingers“ umgehen? Fast fünf Minuten instrumentales, atmosphärisches Wabern zwischen Brian Eno und den „Ambient Works“ von Aphex Twin, ohne erkennbare Struktur oder Melodie, dafür aber mit so viel naturgewaltigem Mystizismus wie kopulierende Wale im Mondschein. Oder der Titelsong, bestehend aus seltsam verirrten, uralten Analog-Drummies, Glockenspiel, Harmonium und Thoms Stimme, die sich in einer Verbal-Klaviatur zwischen Quäken, Nörgeln, leichtem Gurgeln und Telefonhörer-Filter offenbar pudelwohl fühlt?
Und wo wir gerade beim Thema ‘Filter’ sind: Es gibt sie in Unmengen auf dieser Platte, ebenso Echo, Hall oder Loopschleifen. Nicht die billigen, modernen aus dem Computer, sondern altes Analog-Equipment, mit viel Liebe und in endlosen Sitzungen zusammen gebastelt. Selbst „Idioteque“, die erdige, perkussive Minimalismus-Elektronik ohne wirkliche Instrumente und mit einer der ergreifensten Thom Yorke-Melodien ever, ist völlig ohne Computer entstanden, sondern wurde aus Endlos-Bandschleifen und prähistorischen Samplern mit Stecksystem zusammen gesetzt.
Überhaupt: Je tiefer man in das Album einsteigt, um so mehr wird klar, warum alles so lange gedauert hat. Schichten von Streichern, wilden Free Jazz-Bläsersektionen und allerlei undefinierbar Atmosphärischem stehen Momenten gegenüber, die fast unendlich viel Raum zu haben scheinen. Diese Songs, die man bei flüchtigem Hören als unverständlich oder gar langweilig abtun könnte, wachsen. Immer mehr. Ein klassischer ‘Grower’, wie man heute wohl zu sagen pflegt. Das hier versteht man nicht beim ersten Mal, auch nicht beim fünften. Aber irgendwann ist man drin, das Album erlangt Stück für Stück die Größe, die man sich von der neuen Radiohead-Platte erhofft hatte. Mit Garantie für jedermann. Einfach 30 Mal „Kid A“ hintereinander hören, der Rest passiert von ganz allein...
Eines jedoch kann man bei aller Attraktivität von „Kid A“ nicht verhehlen: Die fast allgegenwärtige Ambition, anders klingen zu wollen, bestehende Strukturen aufzubrechen, um daraus neue zu schaffen, hat eine Menge von gewollter Antihaltung. Anti-Kommerz, Anti- Hörgewohnheit, Anti-Erwartungshaltung. Um die 40 Songs - so ganz genau weiß man es selber nicht - wurden aufgenommen, und da dürfte doch der ein oder andere gewohntere Ton mit dabei gewesen sein. Doch für Radiohead gilt: Harmonie ist, was man daraus macht.
Womit haben wir es also zu tun? Mit trotzigen Jungs und der Angst vor dem zu großen Erfolg? Mit musikalisch weiterdenkenden Rockstars, die schauen wollen, wie weit sie gehen können, und dabei trotzdem Erfolg haben? Oder einfach mit Genies, die Platten machen, welche man erst Jahre später versteht? „Wir sollten vielleicht doch lieber ‘Corporate Stadium Rock’ machen, dann wäre Vieles einfacher“, meinte Colin Greenwood vor drei Monaten. Und mit dem neuerlangten Wissen um „Kid A“ erscheint dieses Statement in einem ganz neuen Licht.

Das Konzert

Man las es bereits allenthalben: Radiohead gehen mit ihrem eigenen Zirkus-Zelt auf Tour. Riesig groß, für mehr als zehntausend Zuschauer, trotzdem so intim wie in einem solchen Rahmen nur möglich. Mit viel Brimborium, fast unanständig aufwendigem Luxus-Licht und einer Dynamik, von der man bei aller Stille ihrer Musik fast erschlagen wird. Mit Ticketpreisen, die nur knapp unter denen der Rolling Stones liegen, und dennoch nur zum Teil die gewaltigen Produktionskosten wieder einspielen können.
Doch wer mag daran schon denken, wenn man sich auf dem Weg zu etwas befindet, hinter dem man schon vorher eine audiovisuelle Offenbarung vermutet? Radiohead sind Idealisten, und ob sich etwas rechnet oder unter kalkulatorischen Aspekten Sinn macht, interessiert nicht in erster Linie. Es ist die Musik, die zählt. Und natürlich das Gefühl, die Größe des Moments, so perfekt und kontrolliert wie möglich. Doch, da braucht es schon ein eigenes Zirkus-Zelt.
Diesen Gedanken hegend, schmeißt mich das Taxi in einer brackigen Industrie-Wüste außerhalb von Kopenhagen raus, direkt vor der vielleicht hässlichsten Mehrzweckhalle seit Ende des Sozialismus. Dahinter, auf einer großen grünen Wiese, das dunkelblaue stimmungsvoll angestrahlte Zelt, vom Grundriss wie ein Dreieck, dem man alle drei Schenkel eingetreten hat, mit erwartungsvollen Grüppchen junger Menschen ringsherum. Es wirkt fast wie ein Festival für drei Stunden, mit Merchandise- und Ess-Ständen und relaxter Stimmung.
In der Gesamtansicht könnte der Kontrast kaum krasser sein: Hier die schäbigen 70er Jahre-Bauten, dort Radioheads Gegenoffensive: Seht her, so werden gute Konzerte gemacht!
Was die äußere Erscheinung verspricht, wird vom weiteren Verlauf des Abends gehalten: Radiohead sind phantastisch. Das Licht ist nicht in Worte zu kleiden, die Abstimmung von Klang, optischen Eindrücken und Songauswahl überwältigend. Wo man schon die Konzerte der „OK Computer“-Tour für annähernd perfekt hielt, wird hier noch eins drauf gesetzt. Noch nie habe ich so viele Leute bei einem Konzert gesehen, die sich verstohlen die Augenwinkel reiben, hemmungslos knutschen oder minutenlang ekstatisch Begeisterung bezeugen.
Und das, obwohl Radiohead es uns nicht einfach machen. Gespielt werden fast alle „Kid A“-Tracks, die live fast ausnahmslos noch sperriger und unverständlicher wirken und dem Publikum zudem unbekannt sind. Zwischendurch jedoch gibt es immer wieder gewohnte Songs in unfassbarer Qualität.
Sicher, manch einer dürfte „Creep“ (das die Band ja schon lange nicht mehr spielt) oder „Karma Police“ (auch dieses Hits scheinen sie inzwischen überdrüssig) vermisst haben, aber man kann schließlich nicht alles haben - denn wer dieses Ereignis gesehen hat, der versteht, was Radiohead wollen: Touren ja, aber nur zu ihren Bedingungen. Zwar läßt man sich auf das Spiel des Profimusikers mit dem obligatorischen Platte/Tour-Rhythmus ein, doch sie alleine bestimmen die Regeln.

Die Interviewsituation

Gleiches kann man auch über ihr Gebaren gegenüber dem globalen Medien-Interesse sagen: Sie kommen ihren Pflichten und der Beantwortung der Fragen nach, aber nur in einem für sie erträglichen Maß. Was soviel bedeutet wie: Drei bis vier Interviews pro Land, davon höchstens eines mit Thom Yorke. Auch die Vorbereitung läuft für den Interviewer alles andere als glücklich: Aus der durchaus begründeten Angst heraus, dass „Kid A“ noch vor Veröffentlichung bei ‘Napster’ erhältlich ist, werden keine Promos verschickt. So sitzt man dann am Morgen nach dem Konzert in einer Kopenhagener Hotellobby, bekommt von der Promoterin einen Discman geliehen, und versucht, sich mit halb geschlossenen Augen auf den ersten Kontakt mit „Kid A“ zu konzentrieren, während sich Geschäftsmänner-Horden und der Inhalt ganzer Reisebusse an einem vorbei schiebt - nicht eben optimal für diese Platte.
Ein paar Stunden später fläzen sich Colin und Jonny Greenwood in die Lounge-Ecke einer eigens für diesen Zweck angemieteten Szene-Bar. Colin hat einen ziemlichen Hangover, erinnert in seinem orthopädisch bedenklichen Dreiviertel-Liegen mit dickem Kissen auf dem Bauch eher an den Patienten auf der Psychiater-Couch, und auch Jonny muss ziemlich kämpfen, um dem Gespräch noch folgen zu können.
Gitarrist Ed O’Neil musste kurzfristig nach London fliegen, Drummer Phil Selway ist irgendwie nicht da und Thom Yorke natürlich auch nicht. Nicht, dass er in irgendeiner Ecke hockend das aktuelle emotionale Tal verarbeiten müsste, das ihm der gestrige Auftritt vor Massen schier wahnsinniger Fans bereitet hätte. Nein, ihm geht’s gut, er ist shoppen. Eben noch wurde er mit hochgeschlagenem Kragen, Sonnenbrille und einer Menge schicker Designer-Tüten gesichtet. The other side of Thom Yorke.
Nun also die Greenwood Brothers in halb-desolat. Auch gut, schließlich traf man sich bereits vor drei Monaten (siehe VISIONS 89), um über „Kid A“ zu plaudern. Obschon es nicht ganz einfach ist, mit den beiden knuffig fürsorglichen Brüdern - gelegentlich liegen sie mir Arm in Arm, Kopf an Kopf gegenüber - über ihre aktuelle Musik zu reden, tun sie doch seit etwa zwei Jahren nichts anderes. Da fliegen einem die Insider, Codes und Shortcuts für irgendwelche Songdetails nur so um die Ohren. Natürlich wäre es schon interessant zu erfahren, was die Nichtanwesenden zu sagen hätten, allen voran Thom Yorke. Deshalb finden sich im Folgenden auch exklusive Statements von Thom und Ed, die während des einzigen britschen Radio-Interviews der ganzen Band für die BBC aufgenommen wurden.

Die Band

Ein ganz schöner Zirkus im wahrsten Sinne des Wortes, den ihr mit euren Konzerten betreibt.

Jonny:
„Wir müssen das Zelt ja nicht aufbauen oder uns darum kümmern, dass die Bühne waagerecht auf der Wiese steht.“

Aber ihr müsst alles bezahlen.

Jonny:
„Das stimmt schon, aber das Spielen in diesen ungemütlichen Mehrzweckhallen kann dich ebenfalls auf eine ganz andere Art und Weise fertig machen. Es ist so anstrengend, in solchen Hallen gut zu sein.“

Kann es nicht auch langweilig werden, jeden Abend im selben Zelt zu stehen?

Jonny:
„Ganz und gar nicht. Es ist spannend und aufregend zugleich, und es ist jedes Mal anders. Allein wie die Leute auf uns reagieren, und wie wir von Show zu Show besser werden, zeigt uns, wieviel Sinn das alles macht. Wir bekommen schon mit, dass wir ständig an anderen Orten sind. Dein Tag verläuft ganz anders, selbst der Weg ins Zelt ist ein anderer, und fünf Sekunden, nachdem wir auf der Bühne stehen, nehmen wir das alles sowieso nicht mehr wahr.“

Colin: „After that we only focus on rock.“

Es lohnt also den Aufwand?

Colin:
„Es gab für uns nur die Wahl, gar nicht zu touren oder zu unseren Bedingungen. Und dann wählt man doch lieber die zweite Variante, auch wenn sie unter finanziellen Aspekten ziemlicher Unsinn ist. Dafür sind wir zumindest zufrieden. Und es tut verdammt gut, wieder auf Tour zu sein.“

Das Zelt hat eine komisch abstrakte Form. Habt ihr die selber entworfen?

Colin:
„Auf dem Papier ja. Gesehen haben wir es aber erst zwei Tage vor dem ersten Konzert. Niemand von uns hatte es bis dahin von innen gesichtet. Aber es ist phantastisch, findest du nicht?“

Zweifellos. Was hat euch dazu veranlasst, noch vor Veröffentlichung des Albums auf Tour zu gehen?

Colin:
„Na, eben weil das Album noch nicht draußen ist. Wir wollten noch ein mal eine richtig erfolgreiche Tour machen, bevor uns die Leute wegen ‘Kid A’ in der Luft zerreißen.“

Jetzt mal im Ernst: Ich habe gestern Abend eine Menge leicht verstörte und desorientierte Gesichter gesehen, während ihr neues Material gespielt habt.

Colin:
„Das deckt sich ja dann mit uns auf der Bühne... Bei den neuen Songs kommen wir uns auch noch ein wenig desorientiert vor. Aber es ist doch gut, dass die Leute nicht alles auf Anhieb verstehen. Wie langweilig wäre es, wenn du als Zuschauer nur das bekommst, was du erwartest.“

Dennoch: Wäre es nicht fair, den Leuten, die verdammt viel Geld für ein Konzertticket ausgegeben haben, auch die Chance zu geben, die neuen Sachen vorher zu kennen?

Jonny:
„Das ist reiner Selbstschutz. Die neuen Songs sind live unglaublich schwer umzusetzen, und wir spielen einige davon wirklich noch nicht so gut. Und so kann es sein, dass selbst die schlecht gespielten Versionen der Songs den Leuten etwas geben, weil sie sie überhaupt noch nicht kennen und zumindest schon mal einen Eindruck bekommen. Wenn alles bekannt wäre und wir spielten schlecht, fände ich es viel unfairer.“

Ob gut oder schlecht: Das neue Material klingt live jedenfalls sehr anders als auf Platte.

Colin:
„Schon wahr, es ist jede Nacht etwas völlig anderes. Es hängt immer davon ab, was Jonny spielt. Er macht jeden Abend unterschiedliche Dinge. Noch nie hat er dasselbe zwei Mal gespielt. Er gibt den neuen Songs damit seine Unterschrift, probiert ständig etwas Neues aus. Gestern Abend zum Beispiel, was war das da? Du hast irgend so einen Sound gemacht, kurz danach noch mal, und die Leute dachten, du machst das absichtlich.“

Wie gesagt, da waren einige irritierte Gesichter. Und nachdem man „Kid A“ gehört hat, könnte man fast meinen, dass dies Teil eures Konzeptes ist.

Colin:
„Nein, nein. We’re entertaining, aren’t we?“

Ja, auch. Aber nicht nur. „Kid A“ hat nicht mehr wirklich viel mit gängiger Rock- oder Popmusik gemein.

Colin:
„Sag mal, sollen wir aufstehen und das draußen klären?“

Von mir aus. Aber findet ihr nicht, dass der Schritt von „OK Computer“ zu „Kid A“ ein größerer ist als von „The Bends“ zu „OK Computer“?

Jonny:
„Das musst du entscheiden. Als wir mit den Arbeiten zu ‘Kid A‘ begannen, hatten wir das Gefühl, es ist die gleiche Scheiße wie immer. Ich fühlte mich tatsächlich, als ob wir an den Aufnahmen zu ‘OK Computer‘ weiter arbeiten würden. Und auch jetzt noch fällt es mir schwer, die Unterschiede zwischen den beiden Alben auszumachen.“

Colin: „Wir haben scheinbar eine ganz andere Ästhetik- und Wertevorstellung von unserer Musik als Außenstehende. Du bist beileibe nicht der erste, der so überrascht auf ‘Kid A‘ reagiert. Für uns ist es ein ganz normales Album, ich verstehe einfach nicht, was daran so anders sein soll.“

Zum Beispiel viele der Rhythmen. Nur selten lasst ihr euch auf das gängige 4/4-Schema ein.

Colin:
„Das ist Phil, dafür können wir nichts. Er spielt einfach drauf los, hat irgendwann einen Groove, und erst im Nachhinein zählen wir aus, was für eine Taktart er da überhaupt spielt. Er kann auch nur auf diese Weise Beats entwickeln. Wenn du ihm sagst, er soll dieses und jenes spielen, ist das zu weird für seinen Kopf. Du musst ihn einfach machen lasssen.“

Jonny: „Du wirst es kaum glauben, aber Phil ist der Durchgeknallteste von uns.“

Colin: „Auf der einen Seite macht er zwar immer einen sehr ruhigen Eindruck, aber im Prinzip weiß niemand genau, was in seinem Hirn so vor sich geht. Aber so ist das wohl: Every great band has got a mad drummer.“

Jonny: „Er ist auf eine positive Weise völlig planlos.“

Colin: „Wie wir alle eigentlich. Wir haben oft keinen Plan davon, was wir da gerade machen. Und am Ende kommt etwas heraus, das Sinn macht. Nimm den Albumtitel, das Cover und selbst die Lyrics: Das alles hat streng genommen keine Bedeutung, keinen tieferen Sinn. Aber in bestimmten Augenblicken oder Situationen fügt sich alles zu einem nachvollziehbaren Gesamtbild zusammen.“

Seid ihr überzeugt, dass Außenstehende bis in die letzte Konsequenz nachvollziehen können, was ihr da eigentlich macht?

Colin:
„Deine Frage impliziert, dass wir uns darüber bewusst sind, ein Stück Art Rock-Scheiße zu produzieren. Aber dieses Bewusstsein haben wir nicht. Es geschieht einfach.“

Jonny: „Nimm zum Beispiel ‘Everything In Its Right Place‘. Das ist ein so reiner Song, so pur und simpel - aber nicht beim ersten Hören. Du musst langsam in den Groove einsteigen, den Song nachvollziehen lernen. ‘Kid A’ ist nun mal eine Platte, die du häufig hören musst. Und das ist schließlich auch unsere Grundidee: Es gibt so viele großartige Alben, denen du nach einer Weile überdrüssig wirst, die du nicht mehr hören kannst. Und wir wollen erreichen, dass unsere Musik, so simpel sie gestrickt ist, auch beim 500. Hören noch Spaß macht. Erst dann ist Musik wirklich faszinierend. Hör’ dir doch nur die alten Can-Platten an. Die wird man niemals langweilig finden. Es gibt immer wieder einen Grund, sie noch mal zu hören.“

Warum finden sich auf „Kid A“ nur so wenige Songs, wo ihr doch ca. 40 geschrieben und aufgenommen habt?

Jonny:
„Es gab zwischenzeitlich auch mal die Überlegung, ein Doppelalbum zu machen, aber das hätte die Leute wahrscheinlich noch zusätzlich verwirrt. Wir wollten das Interesse der Leute auf alle Songs fokussieren. Wir wollten vermeiden, dass sie sich drei, vier Lieblingssongs aus einem großen Berg heraus picken, die sie dann nur noch hören, während die anderen in Vergessenheit geraten. Außerdem finden wir, dass diese zehn Songs dem Hörer alles abverlangen. Wenn du am Ende des Albums angekommen bist, bist du voll. Ich finde, es reicht dann.“

Warum habt ihr euch gerade für diese Songs entschieden?

Colin:
„Sie sind alle zehn sehr verschieden, und doch ergeben sie ein stimmiges Gesamtbild. Sie repräsentieren jede Facette unserer Arbeit für dieses Album. Es gibt da eine schöne Parallele: Als wir damals ‘Paranoid Android’ als Vorab-Single zu ‘OK Computer’ veröffentlicht haben, sagte man uns, dass wir das nicht machen können. Sechseinhalb Minuten lange Singles gäbe es einfach nicht, hieß es. Aber erfolgreich war sie trotzdem. Jetzt sagen uns alle, dass ‘Kid A’ zu kurz ist, zu unkommerziell, und dass man so etwas nicht machen solle. Insofern hat ‘Kid A’ die gleiche Funktion für das, was wir als nächstes herausbringen, wie es ‘Paranoid Android‘ damals für ‘OK Computer‘ hatte. Lasst euch überraschen, da kommt noch mehr.“

Thom: „Als wir so weit waren, ‘Kid A’ zusammenzustellen, haben wir versucht, das Album wie einen Song zu schreiben. Wir versuchten, es sich von selbst entwickeln zu lassen, und irgendwie hat es auch funktioniert. Im Moment stecken wir in dem Prozess, die Reste aufzusammeln und zu schauen, ob sie sich noch zu einem weiteren Song zusammenschreiben lassen.“

Waren die Albumaufnahmen traumatischer als die von „OK Computer“?

Thom:
„Das Traumatische an der Albumproduktion war, dass wir lernen mussten, die ganze Sache von außen zu betrachten. Wir mussten uns dazu erziehen, Radiohead als die bedeutungslose Sache anzusehen, als welche wir uns selber nie sehen wollten. Aber anders ging es nicht, wir waren zu sehr gefangen in unserem Kosmos. Unsere Köpfe waren zeitweise einfach falsch gepolt. Wir hätten irgendwann einfach aufhören und aufs Land fahren sollen, um ein bisschen frische Luft zu schnappen und mindestens zwei Jahre überhaupt nicht an das Album zu denken. Aber auf der anderen Seite hatten wir alle einen Horror davor, das bereits Erreichte wieder zu verlieren. Deshalb mussten wir weitermachen.“

Wusstet ihr genau, in welche Richtung ihr gehen würdet, als ihr begonnen habt, an dem Album zu arbeiten?

Thom:
„Nein, eher im Gegenteil: Zum ersten Mal überhaupt hatten wir keinen blassen Schimmer davon, was wir da überhaupt machen. Dieser Zustand hielt sich etwa eineinhalb Jahre, bis alles begann, Konturen anzunehmen.“

Ed: „‘Everything In Its Right Place’ war der erste Song, der fertig war, und als es so weit war, hatten wir zum ersten Mal das Gefühl: ‘Ja, das macht alles Sinn, was wir da tun.’“

Thom: „Und wir wussten sofort, dass das der erste Song auf dem nächsten Album sein soll. It really did itself. Ich weiß, das klingt blöd, aber so war es.“

Alles kam also irgendwie virtuell zusammen?

Thom:
„Genau. Was sagt ihr?“

Colin: „Yeah, completely yeah.“

Dann war das Tracklisting dieses mal nicht der schmerzvolle Teil? Normalerweise bereitet euch dieser Part doch besondere Kopfzerbrechen.

Thom:
„Oh doch, da war Schmerz.“

Ed: „Aber den gibt es immer bei diesem Thema.“

Thom: „Ja, es war ziemlich hart. Es gibt da diese Metapher, die auf mich sehr stark zutrifft: Dass meine Songs wie meine Kinder sind. Einige davon musst du in den Krieg schicken, andere bleiben bei dir zu Hause. Das mag jetzt völlig naiv klingen, aber so ist es. Interessanterweise habe ich mit Björk darüber gesprochen, und ihr ergeht es haargenau so mit ihren Songs.“

Wird es aus diesem Grund auch keine Single geben?

Ed:
„Nicht nur deswegen. Ich denke, an diesem Punkt haben wir bereits mehr als genug Entscheidungen getroffen. Wir wollen uns nicht entscheiden müssen, ob und was von diesem Album eine Single sein könnte.“

Was ist das Besondere an Radiohead 2000?

Ed:
„Das Besondere an Radiohead in der derzeitigen Form ist, dass jeder von uns die Möglichkeit hat, zu hundert Prozent das zu tun, was er will. Diese Platte ist der Beweis dafür, dass uns das gelungen ist. Ein wahnsinnig großer Schritt.“

Thom: „Wir haben auf eine Weise wieder von vorne angefangen. Man könnte meinen, wir sind nur ein Haufen halb-begabter Idioten, aber der wirkliche Punkt ist, dass es für uns immer sehr schwierig ist, Dinge auszusortieren, auf den Punkt zu kommen. Doch so wie wir uns im Moment fühlen, sind wir wahnsinnig glücklich, denn wir haben den Eindruck, dass wir für das, was wir tun, Anerkennung erhalten. Niemand verliert, alle haben etwas davon, was wir machen. All die negativen Energien, die wir bekämpft haben, die wir durchlebt haben, konnten wir in etwas Positives umwandeln. Das ist es, was uns ausmacht.“