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Die wichtigste Band der Welt
Sie sind glücklich mit Ihrem Leben? Sie sind zufrieden mit Ihrer Vergangenheit, Ihrer Gegenwart und Zukunft, Ihrem Partner, Ihrer Arbeit, Ihren Freunden, Ihrer Familie, Ihren Politikern, Ihrer Figur, Ihrer Seele und Ihrem frei gewählten Musikgeschmack? Dann reißen Sie bitte diesen Text heraus, stecken ihn in eine Schachtel und vergraben ihn an einem Ort, den Sie schnell wieder vergessen werden. Denn Sie werden nicht wissen wollen, was RADIOHEAD wissen, und warum diese Band das ganze Chaos erträglicher macht.
by Jochen Schliemann
Thomas Edward Yorke wurde am 7. Oktober 1968 mit einem geschlossenen Auge geboren. Warum, fand man nie heraus, aber bis er sechs war, versuchte man, diesen Fehler in fünf Operationen zu beheben. Mit elf Jahren schrieb Yorke seinen ersten Song "Mushroom Cloud" (typisch für Kinder dieses Alters), seine erste Band hieß TNT, später gründete er mit Ed O'Brien (Gitarre), Phil Selway (Schlagzeug) sowie den Brüdern Colin (Bass) und Jonny Greenwood (Gitarre) in Oxford die Gruppe On A Friday (man probte an einem Freitag). Nach Abschluss eines Plattenvertrages änderten die fünf den Namen in das von einem Talking Heads-Songtitel ("Radio Head") adaptierte Radiohead. Als man den Musiker Thom Yorke Jahre später, nachdem Radioheads drittes Album "OK Computer" die Welt eroberte, in einem seiner raren Interviews nach dem Grund fragte, warum er Musik mache, sagte er: "Es füllt das Loch."
Einige halten Radiohead für die beste Band der Welt. Nicht zuletzt wegen "OK Computer", eine Platte, die immer wichtig bleiben wird. Es eröffnete und beendete alles für Radiohead, bis dato 'nur' eine großartige britische Rockband. Vorher war der Hit "Creep", zwar naiv, aber noch heute programmatisch für die entwaffnende Ehrlichkeit der Band ("Ich wünschte, ich wäre etwas besonderes"). Vorher war "The Bends", das Album, das selbstverständlich jeder schon kannte und das man trotz seiner weltumfassenden Schönheit einordnete unter 'Britpop'. "OK Computer" aber sprengte alles. Erwartungen, Strukturen, den Horizont, die Aufnahmefähigkeit, Singleformate. Dabei lag die Platte zunächst wie Blei in den Regalen. Letztlich aber – und das ist immer noch erstaunlich – sagten alle irgendwann: Was für eine Platte! Musikjunkies, Mainstreamer, Studenten, Kaufleute, Raver, die Menschen, mit denen man reiste, arbeitete – alle wurden getroffen. Mitten ins Herz von Männern, die blind waren vor Angst. Wer Radiohead hört, sieht die Welt anders. Die Krankheiten der Zivilisation, die Perversionen des Alltags. Radiohead schufen mit "OK Computer" großartige, eigenständige, kilometertiefe Musik, die zudem kommerziell explodierte. Ein Phänomen. Der Jazz-Pianist Brad Mehldau coverte "Paranoid Android", DJ Shadow rief Yorke nachts an und dankte ihm, sogar die Konsumnutte Amerika fühlte sich befriedigt. Und all die Idioten, die immer sagten, dass alles wichtige schon war, hatten neben Björk und Nirvana einen weiteren Gegenbeweis. Unsere Kinder werden danach fragen. Obwohl das weder geplant noch der Höhepunkt ihres Schaffens war.
Was mit Radiohead passierte, während sie unsere Welt verbesserten? Während wir uns fragten, wo sie die ganze Zeit waren (vor unserer Nase)? Sie starben. Die Nachrichtensperre kam zu spät, das Tourende auch. Dokumentiert ist das auf "Meeting People Is Easy", dem kargen Videodokument einer Tour, die äußerlich wie ein Triumphzug wirkte, innerlich einem Kreuzzug glich. Vor allem Yorke machte dicht angesichts des Interesses an ihm, dem kleinen, introvertierten Gesellen, der den Anschein erweckt, dass man ihn vom Weiterdenken abhalten muss, weil er sonst weitermacht, bis der Kopf platzt. Drei Jahre später schaffte er es wieder, ein Interview zu geben.
Die Zeit der Worte war vorbei. "Kid A" kam und damit der Witz, das Sendersuchen im Autoradio als die neue Radiohead zu bezeichnen. Verstümmelte Songs, Elektronik, Understatement bis zur Isolation, beginnend mit zwei Ambientstücken und verstört bis in die letzte Rille. Hörten wir diese musikalische Antithese nur, weil es Radiohead ist? Selbst die zwei gewohnt wunderschönen Stücke "How To Disappear Completely" und "Optimistic" schienen ganz weit weg.
"Ich hatte nach 'OK Computer' Probleme, Musik, geschweige denn Worte oder Melodien zu schreiben. All das erschien mir zu pathetisch", meint ein desillusionierter Yorke. Statt dessen habe er einzelne Zeilen aus einem Hut gezogen. Die Texte wurden nie veröffentlicht und sind oft nicht zu verstehen, weil gestört durch Maschinen, die auf "Kid A" überhand über den menschlichen Output nehmen. Es gibt keine Singles, von Interviews mit Yorke ganz zu schweigen. Laut Produzent Nigel Godrich sei die beste Zeit, das Album zu hören, morgens um fünf, nachdem man die Nacht durchgefeiert hat.
"Kid A" entpuppt sich als Synonym für den ersten menschliche Klon. "Ich hatte die Idee, dass irgendwo ein Wissenschaftler dieses genetisch geklonte Baby erschaffen hat. Ich bin mir sicher, dass das bereits passiert." Yorke erzählt auf dem Titeltrack von Ratten und Kindern, von apokalyptischen Szenarien, von Zerfall. Er singt durch einen Vocoder, verändert die Tonlagen durch das drücken von Tasten. "Ich konnte es nicht loswerden, also packte ich es auf die Platte." Songtitel wie "The National Anthem" sind als bitterböser Sarkasmus zu verstehen und machen auch vor Politischem nicht halt. Die Ballade "How To Disappear Completely (And Never Be Found)" spielt mit dem Gedanken, aus der eigenen Identität zu schlüpfen und wurde geschrieben, nachdem Yorke in Dublin von hunderten Fans verfolgt wurde: "I'm not here, this isn't happening". "Die Band wurde in der Mache dieser Platten mehrmals aufgelöst und neu zusammengestellt. Egos wurden getötet. Es gibt Songs, auf denen nur eine Person spielt", erklärte Yorke.
Die beeindruckenden Überbleibsel der Sessions schafften es auf "Amnesiac", das nur Monate später erschien. Abgerundet wurde die Bandphase von der Live-EP "I Might Be Wrong", auf dessen neuem Track, der Akustikballade "True Love Waits", sich Yorke das erste Mal seit langer Zeit wieder mal die Finger vor lauter Energie kaputt zu schrabbeln scheint.
Die Gegenwart beginnt mit einem Knacken. Der erste Ton von "Hail To The Thief", dem sechsten Radiohead-Album, ist das erste Einstöpseln im 'Ocean Way'-Studio in Los Angeles. Im September 2002 zerrte Stammproduzent Nigel Godrich die Band für sieben Wochen nach Hollywood. Das klingt nach Vergewaltigung, letztlich aber haben Sonne und das Eintauchen in den US-Lifestyle zum Gelingen dessen beigetragen, was die Welt als nächstes zerpflücken wird wie ein zubereitetes Spanferkel. Ein Lied pro Tag statt wie zuvor ein Lied in zwei Jahren - so lautet die Bilanz.
Die neugegründeten Radiohead erleben ihren zweiten Frühling. Sie spielen wieder, entdecken ihre Fähigkeiten und überraschen mit sozialkritischen Texten. Die Unverbrauchtheit von "The Bends" ist wieder da, die elektronischen Experimente der nahen Vergangenheit werden perfektioniert. Traditionelles Songwriting, knisternde Rockrevolution, treibende Dramatik, englischer Sarkasmus, ein jaulender Abgesang auf Hollywood, Melancholie, bahnbrechende Elektronik, debile Discohits und ein brutaler Epilog nach einem todtraurigen Ende - alle Facetten großer Musik werden mit gewohnter Sorgfalt (jeder Ton hat Sinn) und neuer Energie vereint auf einem schillernden Album, das zumindest für Radiohead-Verhältnisse durchaus das Präfix 'Pop' verdient.
VISIONS: Ich habe vor ein paar Tagen die neue Radiohead-Platte bekommen.
Thom Yorke: (grinst) Ach, hast du sie im Internet gefunden? Nein? Egal. Ich denke, nächstes Mal müssen wir unsere Musik direkt verkaufen. Dieses Mal liegen drei Monate zwischen dem finalen Mix und der Veröffentlichung.
VISIONS: War die Entscheidung, das eher traditionelle "There There" als Single auszuwählen, allein eure?
Yorke: (grinst) Es gab natürlich Diskussionen mit der Plattenfirma, aber letztlich haben wir sie dann vom längsten Song der Platte überzeugt. Eigentlich hätten wir das allein entscheiden können, aber...
VISIONS: Dann könnte man niemandem die Schuld geben, wenn etwas nicht klappt.
Yorke: Genau. Es gibt nichts Schlimmeres, als selbst für etwas verantwortlich zu sein.
VISIONS: Warum gibst du dieses Interview?
Yorke: Ich freunde mich mit dem Gedanken an, dass sich niemand mehr für uns interessiert. Das ist gut, eine Erleichterung. Ich will endlich mal wieder für unsere Musik kämpfen - nicht gegen sie.
VISIONS: "Hail To The Thief" wirkt anfangs aufgrund seiner vielen Facetten wie Stückwerk. Die 14 Lieder entfalten erst nach gewisser Zeit ihren Fluss.
Phil Selway: Die Songdiskussionen waren hart, denn dieses Mal gab es nur einen Weg: alles auf einmal veröffentlichen. Die Lieder bedingen sich ja regelrecht untereinander.
VISIONS: Es sind auch Songs auf der Platte, deren Texte schon sehr lange auf eurer Homepage stehen.
Colin Greenwood: Stimmt. "I Will" ist recht alt. Vier oder fünf Jahre.
VISIONS: Und es war schon einmal auf einer Radiohead-Platte zu hören. Greenwood Ja, auf "Like Spinning Plates" von "Amnesiac" wurde es im Hintergrund rückwärts abgespielt.
Selway: (überlegt laut) "A Wolf At The Door" ist aus der "Kid A"-Zeit, "Where I End And You Begin" ist auch etwas älter - die Songs passten dieses Mal einfach in die Atmosphäre. Es ist Luxus, einen Songschreiber wie Thom zu haben, dessen Songs man erst einmal weglegen kann, um sie später aufzunehmen.
VISIONS: Hängt viel von Thom ab?
Greenwood: Auf dieser Platte gab er uns CDs mit Gesang und Piano, Gitarre oder Geräuschen, zu denen wir die Musik gemacht haben. Also: Nein, auf dieser Platte hing alles von allen ab. Aber: Ja, auf den anderen war das so.
Selway: (dreht sich zu Colin) Diese Arbeitsweise war, glaube ich, sehr bewusst von Thom gewählt. Er wollte Sachen passieren lassen, uns mehr involvieren. (dreht sich zurück) Die letzten beiden Platten entstanden mehr nach Rezept.
VISIONS: Ich habe die Platte, seitdem ich sie bekommen habe, zweimal täglich gehört und muss sagen...
Yorke: Zweimal! Oh dear. Das könnte ich nicht.
VISIONS: Warum?
Yorke: Na ja, wir kommen am Ende einer Produktion immer an einen Punkt, an dem wir permanent unsere Musik hören müssen, um herauszufinden, in welche Reihenfolge die Stücke sollen, wie wir sie mixen und so weiter. Und jetzt kann ich "Hail To The Thief" nicht mehr hören. Selbst wenn es jemand auflegen würde, und ich wäre im Raum, ich würde es nicht wahrnehmen.
VISIONS: Hörst du dir eure alten Platten an?
Yorke: (sofort) Nein! Manchmal müssen wir das, weil wir vergessen haben, wie ein Song geht, den wir live spielen wollen. Aus irgendeinem Grund vergessen wir zum Beispiel immer, wie "The Tourist" von "OK Computer" gespielt wird.
VISIONS: Warum kannst du deine eigene Musik nicht hören? Ist das zu intensiv?
Yorke: Nein, es bedeutet einfach nichts mehr. Alles, was es macht, ist mich zu verwirren. Es macht mich verrückt.
VISIONS: Erkennst du dich auf den Platten wieder, oder ist das eine fremde Person?
Yorke: Wenn du mit einer Platte fertig bist, dann wird dir kurz klar, was das eigentlich alles war, aber nachdem das einmal realisiert wurde, ist es vorbei. Ich erkenne mich auf unseren Platten nicht wieder. Für mich bin das nicht ich. Dieses Mal aber will ich mich zwingen, den einen Moment, an dem alles Sinn machte, nicht zu vergessen.
VISIONS: Wann war das?
Yorke: Als wir "Myxomatosis" fertig stellten. Wir dachten gerade, wir hätten den Song völlig verloren. Aber als Nigel und ich dann wie jeden Abend ein wenig mit dem Auto durch L.A. fuhren und das Stück hörten, hatten wir plötzlich dieses große Grinsen auf unseren Gesichtern. Wir waren so glücklich und spielten das Stück immer wieder wahnsinnig laut.
VISIONS: Mit dem Auto und der eigenen Musik laut aufgedreht durch Los Angeles fahren – das klingt nicht nach Radiohead.
Yorke: (lacht) Nein, eher wie ein HipHop-Film. Traurig, oder?
VISIONS: Ist euch eigentlich bewusst, wie abstrakt vor allem "Kid A" und "Amnesiac" waren? Was sie an Arbeit für den Hörer bedeuteten?
Yorke: Komisch, aber es alarmiert mich nicht, dass du das jetzt sagst (lacht).
VISIONS: Was sagst du denn zu dem Vorwurf, dass ihr absichtlich schwierige Musik macht.
Yorke: Ich schwöre, dass das nicht die Idee ist. Wir denken eigentlich erschreckend wenig an den Hörer. Um unser eigenes Interesse zu wahren, die Sache aufregend zu halten, machen wir einfach Sachen, die eine gewisse Tiefe, mehrere Ebenen haben. Wenn das nicht der Fall ist, hören wir auf, an einem Stück zu arbeiten. (überlegt) Weißt du, was ich seltsam finde: Die Platten, bei denen ich dasselbe Gefühl habe wie viele Leute bei unserer Musik, stammen von Kraftwerk oder Can und Public Enemy. Und diese Bands haben nichts mit uns zu tun. Unsere Musik ist vielmehr wie... wie Popmusik. Vor allem auf dieser Platte waren wir sehr in die Idee vernarrt, wieder etwas Direktes zu machen. Alles war auf die Performance ausgerichtet, die Songs sollten kurz sein. (schließt die Augen) Es ist aber unmöglich vorauszusagen, wie die Menschen reagieren werden. Das ist etwas, über das ich nicht nachdenken will. Für mich ist das alles so klar, dass ich manchmal denke, ich bin verrückt.
VISIONS: Kann man sagen, dass "Kid A" und "Amnesiac" als Reaktion gedacht waren auf das, was damals passierte?
Yorke: Sie spiegeln einfach perfekt wieder, wo wir damals waren. Sie haben eine eigene Atmosphäre, die aus einer speziellen Situation resultierte. Wir waren ausgebrannt in vielerlei Hinsicht. Eine Bandidentität war etwas, an dem ich jedes Interesse verloren hatte.
VISIONS: Wie bewertest du die Tatsache, dass selbst diese beiden Platten so gut verkauft haben? Ist das der größte Dienst Radioheads an der Musikwelt?
Yorke: Ich halte das eher für beängstigend, würde aber auch streiten über die Aussage, dass diese Musik unkommerziell sei. Für mich sind viele potenzielle Singles auf dem Album.
VISIONS: Das neue Werk ist um einiges direkter. Radiohead agieren. Kann es sein, dass das Live-Album "I Might Be Wrong" den Knotenpunkt darstellt, an dem die Band wieder eine Performanceband wurde?
Selway: Als wir das Livealbum aufnahmen, haben wir das erste Mal darüber nachgedacht, wie ein Song, der um Elektronik aufgebaut ist, live gespielt werden kann. Das wollten wir weiterverfolgen.
Greenwood: Und Spaß dabei haben. Nicht wieder das Gefühl, dass wir uns Schmerzen zufügen.
VISIONS: Das Ergebnis sind Songs wie das wild eskalierende Drum'n'Bass-Schlagzeug-Duell "Sit Down. Stand Up.", das tanzbare "Backdrifts" oder die bedrohliche Soundkollage "The Gloaming".
Greenwood: Unsere elektronischen Songs bestehen aus Geräuschen, die am Ende des Tages auf dem Boden einer Maschinenfabrik liegen bleiben. Diese Fabrik heißt Radiohead.
VISIONS: Colin, stimmt es, dass du und dein Bruder permanent Sounds untereinander austauschen?
Greenwood: Vor allem "The Gloaming" ist so entstanden. Das sollte auch der Titeltrack sein, aber die anderen fanden, der Namen klinge zu sehr Prog Rock.
VISIONS: Das Stück weist mit förmlich an den Boxen klebenden Sounds Parallelen zu Björks letztem Album auf. Mit dem Unterschied, dass sie bei euch klingen, als hättet ihr bei der Aufnahme voreinander gesessen und sie live eingespielt.
Greenwood: Ja, das sind Performances! Alles ist handgemacht mit analogen Synthesizern und so. Knöpfe drücken, Stecker rein und raus, während der Loop läuft. Das gleiche ist bei "Sit Down Stand Up" der Fall, wenn Phil gegen unsere Maschinen Schlagzeug spielt. Das ist die Kombinationen von altem und neuem.
Selway: Als wir die Platte begannen, war dieser Enthusiasmus endlich wieder da, zusammen zu spielen. Es war sehr aufregend, und es war sehr wichtig, dass alles direkt aus der Performance entsteht. Das hält die Platte in erster Linie zusammen.
VISIONS: Ihr haucht der im Rock nur noch selten authentischen Aufbruchstimmung durch Elektronik neues Leben ein. Enttäuscht es bei solchen Errungenschaften nicht, dass euch einige aufgrund des Plattentitels, der einen bekannten Slogan der Anti-Bush-Bewegung aufgreift, auf ein politisches Motiv reduzieren? Man könnte den Titel ja auch auf euch beziehen. Nach dem Motto: Huldigt den Dieben, denn nichts ist wirklich neu!
Yorke: (schließt die Augen) Der Titel dreht sich um einen Gemütszustand, eine Atmosphäre. Wir haben keine politische Platte gemacht. In sechs Monaten, wenn Bush hoffentlich weg ist, wird der Titel wieder das bedeuten, was er soll: Alles und gar nichts. Dass das passieren würde, war klar. Es wird aufregend zu sehen, was in den USA passieren wird. Falls es dazu kommen sollte, dass die Menschen unsere Platte verbrennen, dann sollen die das ruhig machen. "The Gloaming” has begun. Wir sind in der Dunkelheit. All dies ist schon vorher passiert. Geht und beschäftigt euch ein wenig mit Geschichte. Vielleicht sollten wir woanders leben. Auf dem Mond zum Beispiel.
VISIONS: Fühlt ihr euch manchmal überbewertet?
Yorke: (lacht) Ja, klar. Vor allem am Ende der "OK Computer"-Phase war es unerträglich. Unser einziger Freund war ein Journalist namens Nick Kent, der etwas Reflektiertes über die Platte schrieb. Inzwischen aber fühle ich mich nicht mehr verantwortlich für die Reaktionen auf unsere Musik. Ich habe keine Zeit mehr dafür. Ich bin jetzt Vater (Im Februar 2001kam Yorkes Sohn Noah zur Welt – Anm. d. Verf.). Die Zeit, in der ich Musik mache, ist sehr wertvoll. Ich will sie nicht verschwenden mit Gedanken.
VISIONS: Seid ihr die beste Band der Welt?
Yorke: Ich will das nicht hoffen.
VISIONS: Warum?
Yorke: Das wäre gefährlich.
VISIONS: Kann Musik zu ernst genommen werden?
Selway: Bands können zu ernst genommen werden.
VISIONS: Können Bands Musik zu ernst nehmen?
Selway: Da kannst du auch fragen, ob Emotionen zu ernst genommen werden können. Wenn du ein Gefühl hast und das vertonen willst, dann musst du das mit aller Konsequenz tun. Aber: Kann man Bands zu ernst nehmen?
VISIONS: Ist die humoristische Seite von Radiohead unterbewertet?
Greenwood: (lacht) Damit hast du auf jeden Fall Recht. Guck dir die Texte an: Da ist viel Sarkasmus. Wahnsinnig viel. Der Text von "A Punchup At A Wedding" ist nichts weiter als eine Reihe von Klischees. Wie die Farben des Artworks. Sehr schillernd, sehr laut, sehr...
Selway: ...vibrierend.
Greenwood: Genau, danke. Fast extrovertiert. Da ist definitiv Humor, vor allem in Thom. Die Leute verpassen das sehr oft.
Selway: Wir haben das ja auch jahrelang. (beide lachen)
VISIONS: Wann war das?
Greenwood: Ab der Hälfte der "OK Computer"-Tour. Bis wir diese Platte angefangen haben.
VISIONS: "Myxomatosis" etwa klingt wie das dunkle Ende einer durchzechten Nacht, und man könnte auch den Titel so verstehen, dass jemand besoffen sagt: "There is mix on my toes".
Selway: Genau! Ein Wortspiel, andererseits aber auch der Begriff für eine von Menschen kreierte Krankheit, um Hasenpopulationen zu kontrollieren. In den Fünfzigern war das.
VISIONS: Eine Frage, die sich aufgrund des Titels des ersten Songs der Platte anbietet: Wann ist zwei und zwei fünf?
Greenwood: Wenn man eine CD macht, auf der dein Name steht, die aber kopiergeschützt ist.
Selway: Wenn eine Plattenfirma Geld dafür ausgibt, damit ein Radiohead-Song nicht im Radio gespielt wird.
Greenwood: Wenn man gesagt bekommt, dass der Irak chemische Waffen besitzt, sie aber nie zu sehen sind.
Selway: Wenn man gesagt bekommt, wie etwas ist, obwohl es nicht so ist.
Greenwood: Joschka Fischer sagte mal zu Donald Rumsfeld: "Ich glaube nicht, dass es diese Waffen im Irak gibt. Zeigen Sie sie mir, und ich glaube Ihnen." So lange das nicht passiert, ist zwei und zwei fünf.
VISIONS: Seid ihr eine radikalere Band, als viele meinen?
Yorke: Ich weiß nicht. Dieses Mal habe ich meine Inspiration eigentlich vorwiegend aus Kinderbüchern, die ich meinem Sohn vorgelesen habe. Daher stammt zum Beispiel "Sail To The Moon". Und ich rede mehr über andere Personen. Die letzten Platten waren sehr landschaftlich, beschreibend. Diese handelt von Menschen. Aber was genau meinst du mit radikal?
VISIONS: Du scheinst nicht nur Perspektive gewonnen zu haben, du schießt regelrecht um dich. "A Punchup At A Wedding" etwa ist textlich bitterböse, obwohl es anfangs wie eine bluesig angehauchte Popnummer scheint. Ist diese Platte nach all der Introvertiertheit eure kleine Revolution?
Selway: Das klingt gut. Die Idee mag ich.
Yorke: Dieser Widerspruch zwischen Musik und Text ist mir auch aufgefallen. Die Platte ist sehr schön, sehr schillernd, sehr lebhaft, sehr live. Aber die Texte sind fucking violent! Erst als wir fertig waren, wurde mir das bewusst. Ich bin glücklich darüber.
VISIONS: Warum?
Yorke: Ich wüsste sonst nicht, wohin mit der Wut. Aber, wie du schon sagtest: Das Erste, was man hört, ist die Musik. Sie gab mir die Lizenz dafür, "A Wolf At The Door" so böse zu machen. Bei dem Song sprenge ich sogar das Zeilenschema auf, weil der Ausdruck es verlangt. Der Punkt des ersten Satzes ist in der vierten Zeile oder so. Texte aber passieren nur, wenn ich einen Song in meinem Kopf habe, der nicht weggeht. Dann sehe ich etwas und ordne es zu. Normalerweise, wenn du etwas siehst, verpasst du es. Aber mit Musik funktionierst du, du nimmst auf, bist empfänglich.
VISIONS: Deshalb wirken deine Texte oft auch mehr wie abstrakte Geistesblitze.
Yorke: Ja! Entweder sie werden mir von einem anderen Planeten zugebeamt, oder ich finde sie auf der Straße. Sie sitzen irgendwo herum und sagen (spricht mit hoher Stimme): "Hier! Nimm mich!"
VISIONS: Björk sagte mal, eines ihre Ziele sei es, Situationen und Emotionen festzuhalten.
Yorke: (überlegt und schließt die Augen) Du hast tatsächlich eine sehr begrenzte Zeit, einen Song zu beenden. Ein Song öffnet dich für Sachen, die dich durchfahren, aber nur eine Weile. Oft vertraue ich dem Fakt, dass ich nicht weiß, was ich mache. Ich glaube, Björk tut das auch. Andererseits aber wussten wir neun Monate lang nicht, was wir mit "Go To Sleep" machen sollten. Und dann, im Laufe eines Nachmittags in England, wo wir die Platte schrieben, haben wir es arrangiert, aufgenommen und waren pünktlich zuhause, um unsere Kinder ins Bett zu bringen.
VISIONS: Einige von euch sind Väter geworden, ihr habt das Bandgefühl wiederentdeckt, das Albumcover schimmert in bunten Farben – alles scheint gut. Nur Lösungen für diese Scheißwelt habt ihr immer noch keine. Ist es nicht zu einfach, immer zu meckern?
Yorke: Nein, Lösungen gibt es auch auf dieser Platte nicht. Kein "Give Peace A Chance" oder so. Nein. (überlegt lange)
VISIONS: Da werden nie welche sein, oder?
Yorke: (schließt die Augen) Wenn da welche wären, würde ich sie in die Musik packen. Das heißt, eigentlich ist die Musik meine Lösung. Sie macht mich glücklich. Sorgen mache ich mir trotzdem. Hör dir nur mal den letzten Song der Platte an: "A Wolf At The Door" ist eine sehr böse Art, eine Platte zu beenden. Die anderen haben alle ein wenig von Kindergeschichten. Eine kleine Reise sollten sie sein. Dieses Stück aber besteht nur aus dem, was ich sah, als ich die Straße entlang ging - es ist der einzige realistische Song auf der Platte! "Kid A" floh am Ende in einen Traum, mit Harfen und so (imitiert die Geräusche und öffnet die Augen). Aber das hier? Das ist eher wie Alptraum, nach dem du ein Glas Wasser brauchst. Der Song repräsentiert den Moment, an dem ich bisher am dichtesten an einem Nervenzusammenbruch war. Ich hatte ein echtes Problem damit. Aber was bleibt mit übrig, wenn wir nun mal diese Musik gemacht haben?
VISIONS: Wird das Chaos denn jemals aufhören?
Yorke: (überlegt lange) Nicht, wenn wir nichts unternehmen.
Selway: Radiohead machen zwar immer noch keine fröhliche Musik, aber die Musik an sich baut uns auf. Es gibt etwas sehr erhabenes an dieser Platte.
Greenwood: Die Message ist dunkel und verstörend wie die anderen, aber die Grundstimmung ist süßer.
VISIONS: Dennoch meilenweit entfernt von einem Happy End.
Greenwood: Die Tatsache, dass die Platte existiert und so viele wunderschöne Sachen beinhaltet, ist das Happy End. "Hail To The Thief" ist die Antwort auf die Fragen, die die Platte selbst stellt. Etwas zu produzieren ist gleichzeitig Produkt, Ausdruck und die Antwort auf Angst. "A Wolf At The Door" kotzt alles aus. Thom hört nicht auf, bis er nur noch diese schöne Melodie summt. Das ist die Antwort auf die hässlich überzeichneten, realistischen Bilder, die wir sehen. Eine kleine Melodie, ohne Worte.
Radiohead: Hail to the Thief
by Sascha Krüger