Exit Music
Mit „Hail To The Thief” endete ihr Plattenvertrag mit EMI. So war es nur eine Frage des optimalen Zeitpunkts, bis ihr ehemaliges Label eine Best Of der ersten 15 Jahre Bandgeschichte veröffentlicht. Ein guter Anlass, sich auf eine kleine Spurensuche zu begeben: Warum ist diese Band, wie sie ist? Acht Gründe, die Radiohead zu Radiohead machen.


1. Die Schülerband, die nie eine sein wollte
Jugendfreundschaften schweißen zusammen. Wer sich mit seinen Kumpels an Mathe und Latein aufreibt, wird das gemeinsame Drücken der Schulbank nie vergessen. So geschehen mit diesen fünf Lads, die sich an der privaten Abingdon School in Oxford kennenlernten. Damals noch unter dem Namen On A Friday, lebten sie vor allem für ihre Bandproben im schuleigenen Musikraum, immer freitagnachmittags. Und wenn die Jungs dann auch noch auf die Schwester des Kumpels stehen – so wie Thom Yorke auf jene von Ed O’Brien – dann knüpft das Bande, die halten. Hilfreich ist auch, wenn mindestens ein Mitglied älter ist und bereits von einem Leben nach der Schule erzählen kann; wie bei ihnen der deutlich ältere Phil Selway. Und so entfernten sich On A Friday zügig vom 08/15-Geschrammel artverwandter Schülerbands, experimentierten mit früher Elektronik und Jazz, weiblichen Saxofonduos und, so O’Brien, „dem Bedürfnis, Musik zu machen, der man nicht allzu sehr anhört, dass wir alle gewaltige R.E.M.-Fans waren.”
2. Thom Yorkes Unfähigkeit, sich ordentlich zu prügeln
Klar, Einzelgänger war er immer. Aber anders als häufig kolportiert, kein introvertierter und stiller. Im Gegenteil: Yorke verstand es, trotz seiner eigenwilligen Physiognomie mit dem hängenden Augenlied – Folge einer missratenen Operation seines ursprünglich geschlossenen linken Auges – höchst selbstbewusst aufzutreten. Wer ihn hänselte, beispielsweise mit seinem Stammspitznamen „Salamander”, bekam nicht selten eins auf die Nase; sein Vater hatte ihm einige Boxtechniken beigebracht. „Leider habe ich dabei immer den Kürzeren gezogen”, gab er später zu. „Ein paar Mal habe ich eine richtige Abreibung erhalten. Dabei war mir die Idee des direkten Schlagabtauschs immer nah – ich bin wohl insgeheim eine aggressive Person. Aber da ich nie eine Chance hatte, musste ich damit aufhören.” Und sich stattdessen auf etwas anderes konzentrieren: Musik. Für ihn das geeignete Werkzeug, den anderen zu zeigen, dass er besser ist und mehr kann. Als er im Dezember 1991 sein erstes Interview für das Fanzine Curfew gab, wurde die Verschiebung seiner Prioritäten deutlich: „Wir sind ambitioniert. Wir müssen es sein. Denn ich möchte nichts in der ganzen Welt mehr, als ein Star zu werden.”
3. Das bleibende Interesse an der Subkultur
Schon damals, als Yorke jeden Freitagabend auf der Party in seiner Studentenverbindung Platten auflegte, forderte er das Publikum mit schräger Elektronik von The Shamen oder den Ragga Twins. Und viele Jahre später war es ein offenes Geheimnis unter Journalisten, dass das Mitbringen unbekannter deutscher Underground-Elektronik ein ausgezeichnetes Tool ist, um Yorke und die Greenwood-Brüder zu einem luziden Interview zu animieren. Das alles geschah aus einem reinen Interesse am Unbekannten; an der Möglichkeit, sich von denen inspirieren zu lassen, für die sich sonst nur eine Handvoll Nerds interessiert. Denn auch pathologische Innovatoren benötigen frische Anregungen für ihr Tun.
4. Die Kunstform Konzert
In den ersten fünf Jahren ihres Bestehens spielten On A Friday gerade mal acht Shows. Nicht, weil sie nicht häufiger hätten spielen können, sondern weil sie sich ihre Auftrittsorte schon damals sehr genau aussuchten. Das alles fand in großem Rahmen seine Fortsetzung nach der Welttour zu „OK Computer”. Damals sagte Yorke: „Die meisten Hallen, in denen wir auf dieser Tour gespielt haben, waren unfassbar ekelhafte, riesengroße schwarze Löcher mit einer grauenhaften Akustik, die du irgendwie mit Atmosphäre zu füllen hast.” Als Folge spielten Radiohead hernach eine Weile ausschließlich in eigens designten Zirkuszelten an besonderen Orten, mit perfekter Optik und Akustik sowie der für sie prädestinierten Stamm-Vorband Sigur Rós. Nicht zufällig ging diese Konzertreihe als eine der außergewöhnlichsten in die Geschichte der Rockmusik ein. Und diese Suche nach besonderen Orten hält bis heute an.
5. Verweigerung, aus der Innovation entsteht
Diese Band ist pure Verweigerungshaltung. Das Zirkuszelt war so eine, wie auch die Idee, „Paranoid Android” zur Single zu machen, das mit 6:36 Minuten längste Stück von „OK Computer”. Sie verweigerten sich dem Hype, indem sie auf dem Zenith ihres Erfolgs mit „OK Computer” für Jahre im Off verschwanden und erst wiederkehrten, als sie mit „Kid A” und dem kurz darauf veröffentlichten „Amnesiac” das Rad der modernen Musik ein Stück weit neu erfanden und den Begriff Postrock mit etablierten. Sie verweigerten sich den Marktmechanismen, als sie schon früh entschieden, ihre größte Hitsingle „Creep” nicht mehr live zu spielen. Und erst recht, als sie mit „In Rainbows” neue Vertriebswege testeten und damit dem klassischen Plattenfirmen-Modell den Mittelfinger zeigten. Auch diese betonte Eigensinnigkeit findet ihren Ursprung in ganz frühen Tagen: Als Ed O’Brien die Hauptrolle in einer Schulaufführung von Shakespeares „Sommernachtstraum” übernahm, besorgte er Yorke den Job der musikalischen Untermalung. Der weigerte sich trotz lautstarker Fetzereien mit den Lehrern, etwas anderes zu spielen als Freejazz. Lieber nahm er den Rausschmiss aus dem Ensemble in Kauf, als sich verbiegen zu lassen.
6. Die perfekte Corporate Identity
Die Gelegenheit, einmal Stanley Donwood alias Dan Rickwoord zu ehren, den englischen Autor und Künstler, der zusammen mit Yorke (aka Dr. Tchock oder The White Chocolate Farm) seit „The Bends” die gesamte visuelle Kommunikation der Band entwirft. Spätestens seit „OK Computer” haben die beiden ehemaligen Kunststudiums-Kommilitonen eine Ästhetiksprache entwickelt, die vergleichsweise unverwechselbar, mystisch aufgeladen und künstlerisch speziell ist wie Radioheads Musik. Ihre Verbindung von Strichzeichnungen, Suchbildern und zu grafischen Elementen umfunktionierten Schlagworten haben Plattencover, T-Shirts, Poster, Internetseiten zu einer in der Rockmusik selten kohärenten und komplexen Bildsprache gemacht. Mit dem Einzug neuer digitaler Vertriebswege hat sich auch die bandinterne C.I. geändert: Willkommen in der artifiziellen Computerwelt von „In Rainbows”. Für die Verpackung der Deluxe-Version von „Amnesiac” gewannen die zwei – die man lange für ein und dieselbe Person hielt – prompt einen Grammy. Dass Radioheads Videos in ihrer Ästhetik und Bildsprache ebenfalls konsequenten Innovations-Charakter aufweisen, scheint dabei nur logisch.
7. Das Zulassen, Absorbieren und Modifizieren von Einflüssen
Im finalen Ergebnis oft kaum noch wahrnehmbar, besteht ein Großteil von Radioheads Arbeit im Adaptieren und kunstvollen Verändern offensiver Einflüsse. Ihre große Kunst ist dabei die Unterschiedlichkeit der Einflüsse, die bei ihnen zu einem großen Ganzen werden. Allein die Inspirationen zu „Kid A” und „Amnesiac” könnten diversifizierter kaum sein. Musikalisch, einerseits: Von Elektronik-Pionier Aphex Twin („Idioteque”) über Yorkes Jazz-Hero Charles Mingus („The National Anthem”) bis zu den kollektiven Bandhelden The Smiths („Motion Picture Soundtrack”). Und textlich, andererseits: von Yorkes Lieblingsbuch „Alice im Wunderland” bis zu Naomi Kleins Kapitalismus-Abrechnung „No Logo” – gute Ideen kommen von überall.
8. Das Glück, dass Thom Yorkes frühester Wunsch nicht in Erfüllung ging
Der hieß, glaubt man den Aussagen seines ersten Gitarrenlehrers: „Ich möchte sein wie Brian May. Ich möchte sogar er sein.” Ein Glück, dass er weder Mays Pudelhaare noch sein klassisch MOR-rockiges Gitarrenspiel adaptierte. Denn wären Radiohead heute die neuen Queen, wäre vieles anders. Und Muse zum Beispiel überflüssig.