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RADIOHEAD
Die Zeit wilder Experimente und medialer Totalverweigerung ist vorbei. Auf HAIL TO THE THIEF geben sich Thom Yorke & Co. als versöhnliche, aber auch kämpferische Band
Marcel Anders
Auf der Bühne mutiert Thom Yorke zum großen, charismatischen Frontmann - im wahren Leben ist er eher unscheinbar und schüchtern. Ein schmächtiges Männchen mit rotem Stoppelbart und wüstem Wuschelkopf, das sein Gegenüber genau fixiert, anfangs merklich zurückhaltend ist und sich für seine Antworten zumeist mehrere Minuten Bedenkzeit lässt. Aus gutem Grund: Er hat seit fünf Jahren kaum Interviews gegeben und ist schlichtweg aus der Übung. „Und jetzt habe ich stellenweise einfach Angst, das Falsche zu sagen. Eben weil ich weiß, dass es gleich wieder an die große Glocke gehängt und gegen mich verwendet wird.“
Was bei HAIL TO THE THIEF quasi vorprogrammiert ist. Denn ein Album, das so politisch, so zynisch und bissig ist, sorgt natürlich nicht nur für Aufsehen in den Medien, sondern auch für voreilige Kritik. Deshalb ist Thom gleich doppelt vorsichtig: „Wir haben wahnsinnig viel Hasspost aus Amerika bekommen. Und das, weil die Leute meinen, wir würden ihren Präsidenten beleidigen.“ Dabei ist der Titel lediglich die Adaption eines Slogans, den demokratische Demonstranten nach Bushs umstrittenem Wahlsieg einsetzten - als ihn der Oberste Gerichtshof trotz unvollständiger Stimmenauszählung zum Präsidenten erklärte. „Das hat mich wahnsinnig beschäftigt", konstatiert Thom. „Eben wie das in der Musterdemokratie Amerika passieren konnte - und nicht zum ersten Mal. Im 18. Jahrhundert gab es schon so einen Fall. Aus dem hat man scheinbar nichts gelernt.“
Ganz im Gegensatz zu Yorke: Der schreibt zwar gern über brisante Themen wie Afghanistan, Irak sowie die Verknüpfung von Öl, Politik und Krieg, löst sich ansonsten aber auch von seiner radikalen Verweigerungshaltung der letzten Jahre. „Das war reiner Selbstschutz“, so der kauzige Mittdreißiger mit dem leichten Silberblick. „Nach den letzten beiden Alben, die ein wahnsinniger Kraftakt waren, war ich so ausgepowert, dass ich mit niemandem reden konnte. Ich brauchte eine Pause. Und natürlich hat man mir das prompt als Arroganz ausgelegt. Nur: Was soll ich dagegen machen?“ Nicht viel anders war es mit der Musik: Da hat er nach dem ’97er-Meilenstein OK COMPUTER, einem der erfolgreichsten Brit-Alben aller Zeiten, die kommerzielle Bremse getreten - und auf den Nachfolgern KID A sowie AMNESIAC derart wild mit Sequenzern und Loops experimentiert, dass es Kritikern wie Fans die Schuhe auszog. „Eine Trotzreaktion“, gibt Yorke grinsend zu. „Aber das ist doch normal, wenn du ein Album gemacht hast, das überall als Klassiker verehrt wird. Was willst du da als Nächstes machen? Du hast nur eine Chance: Du musst etwas Neues wagen, und das ist eine echter Test.“
Den Radiohead mit ihrem neuen Album problemlos bestanden haben. Folglich können sie jetzt, auf ihrem sechsten Epos, auch wieder versöhnlichere Töne anschlagen und atmosphärisch dichte Rock-Songs spielen, die Yorke nach eigenem Bekunden so leicht fielen, wie lange nicht mehr. Gerade mal sechs Monate brauchte er für das Dutzend Tracks - bei KID A waren es geschlagene achtzehn. „Wir sind ziemliche Perfektionisten, daran hat sich nichts geändert“, so Thom. „Aber im Gegensatz zu den letzten Platten sind halt wieder ein paar Singles dabei.“ Seine Fans werden es ihm sicherlich danken.
THOM YORKE über Dada-Genie John Heartfield, die abgelegten Klamotten von R.E.M.-Sänger Michael Stipe und viele kleine Missverständnisse:
Euer neues Album heißt HAIL TO THE THIEF, ein Slogan, der sonst auf Anti-Bush-Demonstrationen zum Einsatz kommt...
Ja, aber ich kann nur sagen, dass wir nicht versucht haben, ein politisches Album zu machen. Um ehrlich zu sein, habe ich sogar verdammt viel Zeit darauf verwendet, um das zu verhindern. Wenn also wirklich etwas Politisches auf der Platte ist, dann aus reinem Zufall.
Weil es schon zu viele Musiker gibt, die sich an Protestliedern versuchen?
Ich denke, es ist wirklich schwierig, einen politischen Song zu schreiben, der auch Sinn macht. Jede Form von Kunst besitzt auch eine gewisse Duplizität. Von daher funktioniert das nicht. Selbst dann nicht, wenn du es so machst wie dieser deutsche Künstler während des Zweiten Weltkriegs, der sich auf Collagen versteift hat.
John Heartfield?
Richtig! Seine Sachen waren ultrapolitisch. Nur war das eben nicht offensichtlich, weil er zahlreiche Fantasieelemente verwendete und dem Ganzen etwas Komisches verliehen hat. Nimmt man sie aus dem zeithistorischen Kontext, stehen sie für etwas ganz anderes. Und das erreichst du durch das Isolieren einzelner Aspekte. So habe ich es mit dem gemacht, was ich im letzten Jahr im Radio gehört habe - über den Krieg in Afghanistan und die Frage nach den Motiven. Wenn in meinem Kopf eine Glocke klingelte, habe ich das aufgeschrieben und es anschließend aus dem Kontext gerissen. Ich habe mich nur nach dem Klang der Worte gerichtet und komplett ausgeblendet, was sie bedeuten. Erst am Schluss habe ich erkannt, dass es ein ziemlich wütendes Album geworden ist. Also genau das, was ich nicht wollte.
Bist du so etwas wie der Heartfield des Rock?
Ich bin eine diebische Elster. Und manchmal denke ich, dass das meine größte Schwäche ist. Aber es ist halt so, dass ich bestimmte Dinge absorbiere. Wenn ich zum Beispiel viel von einer bestimmten Art Musik höre, übernehme ich sie in meine eigenen Songs. Insofern war diese Platte eine interessante Erfahrung, denn ich konnte mich lange nicht auf sie konzentrieren. Erst als die anderen sich richtig reingekniet haben, ist der Funke auch auf mich übergesprungen.
Und wie gehst du mit den Erwartungshaltungen der Fans um, die immer noch auf ein zweites OK COMPUTER hoffen?
Wir hatten mehrere Alben dieser Art. Und als die letzten beiden erschienen, hatte ich das Gefühl, wir würden damit gegen diese irrsinnige Erwartung ankämpfen - nämlich jedes Mal einen großen Schritt nach vorne machen zu müssen. Das hat mich wirklich belastet. Außerdem habe ich lange gebraucht, um mich mental auf dieses Album einzustimmen. Im Grunde gelang mir das erst, als mir meine Freundin Rachel die Leviten las: „Warum lässt du es nicht einfach passieren? Mach eine Platte und warte ab, was daraus wird.“ Genau das tat ich. Ich habe mich treiben lassen.
Gleichzeitig brichst du dein fünfjähriges Schweigen. Wie kommt's?
Weil mich das alles nicht mehr interessiert. Ich lese keine Zeitschriften und sehe kein Fernsehen. Von daher macht es mir auch wieder Spaß, Interviews zu geben.
Woher rührt dein Image als mürrischer Querdenker?
Keine Ahnung! Es ist definitiv nicht meine Absicht, als schwierig zu gelten. Aber das liegt wohl auch an unserem Sound, der eine gewisse Morbidität besitzt. Und selbst wenn wir versuchen würden, fröhlicher zu sein, dürfte das die öffentliche Meinung kaum ändern. Du kannst ja nicht von jedem verlangen, dass er sich intensiv mit dir auseinander setzt. Wer uns für depressiv hält, soll das tun - ich sehe es anders.
Und zu deinem Humor gehört, die alten Klamotten von R.E.M.-Sänger Michael Stipe aufzutragen?
Ja, das tue ich - dieses Shirt ist zum Beispiel von ihm. Und daran ist ja nichts falsch. Er hat so viele Sachen, dass er nicht weiß, wohin damit. Da wir gute Freunde sind, trage ich sie auf.